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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

schrecklich müde vom Bilderbesehen. Heinz hatte ihm, da anderes Spielzeug dem Kinde nicht zusagte, ein ganzes Dutzend der heiß ersehnten Bilderbücher geschenkt. Nun sollte er ihm etwas erzählen und konnte doch vor Unruhe kaum still sitzen. Im Auf- und Abgehen sprach er, wie unter einem inneren Zwange stehend, von den Weihnachten seiner Kinderjahre, wie Otti und Hede ihn, den Kadetten, vom Bahnhofe abgeholt hätten nach Hause, wo Berge von Kuchen ihn erwarteten, und wie sie alle Drei so gar nicht gewußt hätten, was anfangen, bis zu dem heiß ersehnten Glockenzeichen.

„Warum ist Tante Otti nicht bei uns?“ fragte Heini.

„Sie ist krank.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Das verstehst du nicht, mein Liebling.“

Der Kleine schwieg und Heinz dachte weiter an die Zeiten, wo er sich so wohl gefühlt hatte unter den Verhätschlungen seiner Schwestern, besonders Hede die war gerade zu erfinderisch gewesen in Liebesbeweisen. Wie hatten sie beide miteinander getollt, gelacht, wie ernsthaft hatte sie davon gesprochen, ihm dereinst die Frau auszusuchen, und mit welch rührender Bereitwilligkeit gab sie ihm die paar Groschen ihres Taschengeldes, wenn Ende des Monats nichts mehr in seinem Portemonnaie war! Und jetzt – jetzt redeten sie kaum miteinander, und am Weihnachtsabend war sie nicht daheim – –.

Es war seine Schuld, das fühlte er deutlich. Er war im Unrecht! Er stößt da das beste, was er, nächst seinem Kinde, noch im Leben hat, mutwillig von sich. – – Wenn sie nachher kommt, dann will er sie umfassen und sie bitten, Geduld mit ihm zu haben, will sie bitten, ihm zu helfen, das Leben weiterzutragen. Er will ihr alles gestehen, wie und warum er gelitten, wie er gearbeitet, wie er den Mut zu weiterem Schaffen verloren. Er will sich an ihr, an dem treuen Schwesterherzen wieder aufrichten. Er ist so weich gestimmt wie einst vor Jahren, wo sein Kinderauge in den Glanz des Weihnachtsbaumes schaute.

„Möchtest du, daß Tante Hede bald kommt?“ unterbricht Heini des Vaters Gedanken.

„Gern, Heini, und weißt du, dann wollen wir Tante bitten, daß sie abends immer bei uns bleibt.“

„Ja, Papa! Warum thatest du das nicht schon lange?“

Heinz wurde verlegen. „Tante hatte Weihnachtsarbeiten,“ sagte er unsicher.

„Sieh ’mal, sie hat dich gemalt; und hat dir die hübsche Bluse genäht; aber nun wollen wir sie bitten, daß sie bei uns bleibt, und dann lesen wir und spielen Halma, und das Pianino schieben wir hierherein und Tante singt uns Lieder vor – möchtest du das?“

„Freilich, Papa!“ antwortete der Kleine und seine Augen glänzten. Und dann klopfte es plötzlich und gleich darauf trat Hede ein.

Heinz erwiderte ihren „Guten Abend!“ nicht, er sah sie nur groß an, erstaunt, befremdet. So hatte sie ausgesehen vor fünfzehn Jahren, so rosig, so jung, so hübsch. Eine Strähne der dunklen Scheitelhaare hatte sich gelockert und hing ihr über die Stirn, die Lippen, die sonst einen so herben Zug hatten, ließen nun im halb verlegenen Lächeln die weißen Zähne durchblitzen – wie ein Wunder erschien sie ihm.

„Heinz! bist du böse?“ fragte sie und ging zu ihm hinüber und erfaßte seinen Arm.

Er schüttelte den Kopf.

„Hast du auf mich gewartet?“

„Ja!“ sagte das Kind anstatt des Vaters, „sehr haben wir gewartet, und wir wollten dich um etwas bitten.“

Sie blickte von einem zum andern und ihr Lächeln erstarb.

„Wir wollten dich bitten, Tante, daß du jetzt immer abends bei uns bleibst. Es ist nicht schön wenn du drüben allein sitzest, sagt Papa, und das Klavier schieben wir auch hierher.

Hede antwortete nicht, sie sah nur fragend auf Heinz, auch er hatte eine Frage in seinen Augen, und auf einmal färbte ein Purpurrot ihr Gesicht.

„Heinz,“ begann sie endlich, zu ihm tretend und die Hand auf seine Schulter legend, „Heinz, ich muß dir eine Mitteilung machen. Sieh, Heinz – ich – du weißt ja wie arm ich bin an einem bißchen eignen Glückes – oder, du weißt es nicht, nein – du weißt es ja nicht! Und da hat mich der Zufall, oder die Not – wie du willst – in das Haus getrieben, wo ich nun doch noch – nicht ein bißchen – nein, ein ganzes Uebermaß von Glück finden sollte. – Heinz, ich habe es genommen, als es mir entgegengebracht wurde heute, ich konnte es ja nehmen, ich bin frei, ganz frei, denn du – du brauchst mich nicht – ich hab ’s gemerkt während des halben Jahres meines Hierseins. Und so bin ich jetzt Günthers Braut.

Er war sehr blaß geworden, er trat auch unwillkürlich einen Schritt von ihr fort, so daß ihre Hand von seiner Schulter sank. Dann aber, als er in ihre Augen sah, ihre erschreckten, ängstlich erweiterten Augen, faßte er nach ihrer Rechten.

„Du hast recht gethan,“ sagte er gepreßt, „sehr recht, ich gratuliere dir, Hede, von ganzem Herzen!“

„Er will morgen bei dir anfragen, um – –“ „Laß doch!“ murmelte er, sie unterbrechend. „Du bist doch dein eigner Herr, Kind. Aber – natürlich ist er mir willkommen, sehr willkommen – selbstverständlich! Und wenn ich dir sonst irgendwie nützlich sein kann, Hede, du weißt ja – du hast recht gethan sehr recht! Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin müde, ich habe ein wenig Kopfweh, schlaf’ wohl und träume glücklich! Gute Nacht, Hede!“

Sie ging ohne ein Wort, ganz erschüttert, hinaus. „Will die Tante nicht hier bleiben, Papa?“ fragte Heini nach einer Weile, der nicht verstanden hatte, was die Unterhaltung bedeutete.

„Nein, Heini,“ sagte er und die ganze schneidende Bitterkeit seiner Seele brach aus den Worten, „nein, Heini, sie hat die kleinen Günthers lieber als uns, sie will ihre Mama werden.“ Zum zweitenmal war er zu spät gekommen mit seinen guten Vorsätzen. Und er küßte seinen Jungen – der wenigstens blieb ihm.

Die Nachtigallen sangen wieder im Park von Breitenfels; sie waren zahlreicher gekommen als je, denn nichts störte sie mehr in diesen verlassenen Fürstengärten. Im Frühjahr haben die Herrschaften mit dem kranken Erbprinzen herkommen wollen, aber die Aerzte waren dagegen gewesen. Die Luft sei zu herb, die Lage zu hoch für seine kranken Lungen. So hatte man denn eine Villa gemietet in Badenweiler und hoffte dort auf ein Wunder. In Breitenfels blieben die Läden geschlossen und die Möbel verhängt, die Schloßwache gähnte auf ihrem Posten die paar Beamten gähnten in den Bureaus wie die wenigen Bediensteten ebenfalls, und auch die zwei Braunen im Stalle gähnten auf ihre Weise, und dabei standen sie sich die Beine steif, wie der Kutscher versicherte, denn der Herr Schloßhauptmann scheine ganz und gar vergessen zu haben, daß er über die Equipage verfügen könne. Das letzte Mal waren sie in Geschirr gegangen, als Ostern die Schwester mit dem Herrn Oberförster Hochzeit gemacht hatte.

War auch eine Hochzeit gewesen! Um zehn Uhr früh getraut in der Kirche in Gegenwart des Herrn Schloßhauptmanns und des Rentmeisters, keine Seele sonst, dann stehenden Fußes droben im Zimmer des ersteren ein Glas Champagner, ein belegtes Brötchen, und das junge Paar stieg in den Wagen um nach der neuen Heimat zu fahren. Der Oberförster war nämlich zu Neujahr plötzlich nach Wolfsrode, einem einsamen Jagdschloß inmitten ausgedehnter Waldungen, versetzt, nicht allzuweit von der Residenz, und drunten in der Oberförsterei saß ein anderer, ein neugebackener, eben verheirateter Oberförster, der sich und sein junges Eheglück förmlich vergrub in dem großen Hause, und den die Breitenfelser ebensowenig zu Gesicht bekamen wie den Schloßhauptmann droben.

Im Doktorhause wohnte der neue Arzt. Er hatte wirklich nicht zu bereuen, dort eingezogen zu sein, der Herr Doktor Lehmann. Nicht nur, daß es auf der ganzen Gotteswelt keine sauberere freundlichere Wohnung gab mit so ausgezeichnetem Kaffee und stets frischer Butter mit einer so mütterlich freundlichen Wirtin, die es verstand, die alte Kundschaft ihres verstorbenen Gatten dem jungen Nachfolger zuzuführen – nein, es war da auch noch ein besonderer Anziehungspunkt, ein schönes schlankes Mädchen, dessen große braune Augen mit einem fesselnden Ausdruck von Schwermut und Sehnsucht in die Welt schauten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_280.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)