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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Ein Uhr! Der Klang der Glocke rief zur Arbeit. Aus der Kantine, von den Betten der Baracken, von luftigeren Lagerstätten auf Bretterstapeln und auf verwildertem Gras stürmten die Kanalarbeiter zum Werk. Stöhnend keuchten die Lokomotiven drunten auf der Sohle und hoch oben am Schleusenrand, schleppten die ausgebaggerten Erdmassen weit hinaus ins Land, schleppten von der Landungsbrücke heran die mächtigen Blöcke, die aus fernen Steinbrüchen stammten oder von hart arbeitenden Männern gefischt waren auf dem Grund des Meers, das sie in Winterstürmen von Felsenküsten riß und südwärts wälzte in gewaltigen Armen. Menschenkunst hatte die vielgestaltigen in starre Würfelform gebracht, um aus dem Raub des Meeres selbst die Zwingburg aufzutürmen gegen die begehrlich züngelnden, um sich greifenden Wellen. Da wo ein sinnreich gefügtes Rad künftig die Wasser zwingen sollte, selbstthätig die gewaltigen Schleusenthore zu regieren, wurden eben die letzten Sandsteinquader eingemauert. Die Einsetzung jeder einzelnen war ein kleines Drama, ein Triumph des menschlichen Geistes über die lastende Wucht der Materie. Sorglich auf Stroh gebettet, kam der Riesenblock auf der Sohle langsam herangerückt. Mit angespannten Muskeln hoben und drehten vier Männer ihn keuchend in die Drahtseile, hängten sich an das Ende des Flaschenzugs, von dem gehoben der Koloß langsam, langsam emporschwebte über ihren Häuptern bis zum ersten Gerüst. Droben dieselbe Arbeit, erschwert durch die Enge des Stützpunkts, der drei geländerlosen Bretter haushoch in freier Luft. Und wieder der Eingriff des Flaschenzugs. Empor fuhr der Baustein zum zweitem zum dritten Stockwerk, hinauf in Turmeshöhe, wo der Meister mit seinen Gesellen ihn einreihte in die glatte Stirn der Schleusenwand, daß er auch nicht um Haaresbreite aus dem Lot fiel, daß die wohlcementierte Fuge auch nicht dem fast körperlosen Tropfen das Durchsickern gestattete. Harte Arbeit war dies Steinaufwinden, besonders mit leerem Magen, Lorensen empfand’s. Oefter als sonst seine Art war, griff er zur Schluckflasche.

„Ich mein’, die da später ’mal mit Schiffens durchfahren werden sich nich vermuten sein, was für’n Schinderei so ein einzigster Stein ein Menschen doch macht. Oha! Warm is’s!- Sluck haben, Svensen?“

Mit einer Karre voll Bauschutt kam Svensen auf dem schmalen Gerüstweg daher, den Kopf mit dem braunen Haarschopf über der Stirn traumverloren gesenkt. Er antwortete nicht.

„He, Svensen!“

„Ja, die Sonn’ scheint ein büschen warm. Macht nix.“

„Ob du Schluck willst, frägt Lorensen,“ sagte ein langer, sehniger Mann, den sie den Hamburger nannten. Seinen Eigennamen hatte der Kanal ihm abgestreift wie vielen anderen.

„Wie denn?“

Der Hamburger wies auf die Flasche.

„Snaps? – nee, ich nich! heut’ nich.“

Er schob vorüber, keuchend, schwerfällig, versonnen. Ab und zu hielt er einen Augenblick an, atmete laut und sah in die Tiefe, die wie der Schlund einer ungeheueren Cisterne ihm entgegengähnte. Dann löste er die rechte Hand von dem Griff der Schiebkarre, bewegte sie abwägend in der Luft und murmelte Unhörbares.

„Svensen! – Dunderkiel noch ein! Wird das nu bald?“ schrie ein Aufseher vom andern Ufer herüber, wo der Schuttwagen bespannt auf die letzte Schiebkarre wartete.

„Der wird auch alle Tage dösiger,“ brummte der Hamburger, dem Kameraden nachsehend.

Ein rothaariger Junge mit offenem Hemd, der wie ein Affe an einer der Leitern herumturnte, schrie „Ich weiß, warum! Svensen ist verliebt.“

Darüber brüllten die Arbeiter vor Lachen. Einer wehrte, noch sich schüttelnd vor Vergnügen, „Grashopper! Laß du alte Leute zufrieden.“

„Nee,“ verteidigte sich der Junge, „der Danziger, der mit in sein Bett släft, sagt, Svensen bürstet alle Sonnabend sein Hut, un denn hat er ein Ratgeber für Liebende unter sein Kopfkissen liegen.“

Neuer Jubel brach los. Der Hamburger schlug sich die Seiten vor Lachen „Bist ’n Baas, Jung! Bist ’n Baas!“

Und „He? was?“ sagte ein Berliner verlorenes Kind und puffte seinen Nachbar in die Rippen, „den Svensen, den koofen wir uns bei’t Vespern. Er muß uns det Mächen nennen. Denn jehn wir für ihn auf die Freite.“

Aber Lorensen, der an die starre Gestalt im Kanalschilf dachte, war nicht behaglich bei dieser Aussicht. Er spuckte rasch in die Hände und ergriff das Tau des Flaschenzuges.

„O – ha –! Up!“

In diesem Augenblick fuhr das Rad einer Schiebkarre dem Arbeiter so ungeschickt gegen die Kniekehle, daß er taumelte und um ein Haar rückwärts in den Abgrund gestürzt wäre.

„Schafskopp!“ schalt er, sich mühsam haltend. „Kannst nich dein Augens aufknöpfen?“

Da schaute er herumfahrend in Perettis Bronzegesicht und verstummte in peinlichem Schreck. Doris’ Reden gingen ihm durch den Kopf. War der Stoß – Absicht gewesen?

Der Hamburger und der Berliner überhäuften den Italiener mit Vorwürfen. Er sah sie gar nicht an. Fest richteten seine brennenden Augen sich auf Lorensen.

„Warum läuft das Kerl mir in Weg? Eh? – Er soll Platz machen! Platz! Platz!“

„Dessentwegen bringt man doch keinen Menschen um“, verwiesen die Arbeiter.

Carambo!“ beteuerte Peretti. „Hab’ ich Menschen umgebracht? Ich muß schieben meine Zahl Karren, cospetto! Mensch, Klotz, Stein – was is – auf Weg! – Oder geh zu Teufel!“- Nachdem er diese Worte mit wild rollenden Augen hervorgesprudelt hatte, wandte er den ihn mit gehobenen Fäusten bedrohenden deutschen Arbeitern den Rücken und steuerte seine Schiebkarre weiter über den schmalen Brettersteg hoch in den Lüften.

Aber eilig, daß die leere Karre auf den schwanken Brettern rumpelte und hüpfte, schnaufend und prustend platzte vom andern Ende der Schleuse Svensen in die Gruppe.

„Man bloß – ich wollt dir festhalten, Lorensen, damit daß du nich abstürztest. Abers nu is das woll nich mehr nötig?“

Wie er dastand, mit der über die Stirn hängenden Haarflocke, in den gutherzigen verträumten Augen Verblüffung und etwas wie Bedauern, daß der, den er zu retten kam, schon ohne ihn wieder sicher auf den Füßen stand, löste sich die schwüle Spannung des Zornes in all diesen Männern in herzhaftem Lachen.

„Da hätt’st dir ein büschen besser ’ran halten müssen,“ meinte Lorensen.

Und der rothaarige Bengel auf der Leiter schrie: „Lorensen is doch kein Uhl’, daß er in der Luft hängen bleibt, bis du ranpaddeln wirst“. .

„Es is wahr, ich komm’ ein büschen spät,“ gab Svensen zerknirscht zu.

„Das thust du immer, Svensen.“

„Ja, das thu ich oft.“

„Immer Svensen!“

„Es is wahr. Ich weiß nich, wie es zugeht. Aber ich hoff’ doch, daß ich einmal in mein’ Leben noch zur rechten Zeit komm’. Ja, das hoff’ ich.“

„Denn mußt aber viel forscher zupacken, Svensen.“

„Ja, das soll woll sein.“

„Besonders bei die Deerns.

„Thu’ ich, Hamburger. Ja, das thu ich!“

„Ohne langes Besinnen“

„Nee, ich besinn’ mich nu wirklich auch nich ’n büschen mehr!“ Er sah ordentlich unternehmend aus. Seine Augen blickten ganz wach. Eilig lief er mit seiner Karre weiter.

„Bei’t Vespern muß er uns beichten“, entschied der Berliner. „Kinders, das giebt ’nen Hauptjux!“

Aber zur Vesperzeit war Svensen nirgends auf dem Bau zu finden. Sobald die Uhr zum Schlage aushob, hatte er sich aus dem Kanalbett geschlichen, hastig kreuzte er das sandige Plateau und ließ sich über den alten Kanal setzen. Bei der Ueberfahrt wusch er sich sorglich Hände und Gesicht, knüpfte sein Halstuch neu und fragte den erstaunten Fährjungen. „Sitzt das nu woll so ’n büschen akkurat und reputierlich?“

Den Hut schlug er am Bootsrand rein von Kalk und Staub, und so schritt er den Sandweg hinaus nach Holtenau, unterwegs sich immer wiederholend „Ich besinn’ mich nu nich mehr – nee! immer forsch zupacken! forsch zupacken! Das muß Ein! Ja, das is so.“

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_275.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2019)