Seite:Die Gartenlaube (1897) 266.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die alte Frau hörte einen Augenblick zu weinen auf. „Du bist aber doch noch nicht verheiratet!“ warf sie ein wie ein eigensinniges Kind.

„Aber ich habe meinen Beruf, Mutter, einen Beruf, dem ich Jahre meines Lebens opferte, der mich ernährt und beglückt, an den ich gebunden bin wie an einen Mann.

„Ach so – das geht natürlich vor!“ klang es bitter.

„Aber würdest du denn von Robert oder Walter verlangen, daß sie ihren Beruf aufgeben und hier bei dir bleiben?“

„Blech!“ scholl die Stimme des Referendars aus dem Winkel. Der Lieutenant räusperte sich. „So bist du also auch eine von den Frauenrechtlerinnen geworden, die unser Familienleben verderben?“ sagte er gereizt. „Der Beruf der Frau liegt innerhalb der Familie – die Tochter gehört zur Mutter!“

„Habe ich das bestritten? fragte Aenne. „Bis zu meinem letzten Hauch werde ich ihr gehören, ich kenne keine heiligere Pflicht. Und in dem letzten Brief, den der Vater an mich schrieb, vielleicht unter der Ahnung seines Todes, da steht: ’Nicht wahr, Aenne, du bleibst mit Mutter zusammen?’ Er hätte die Mahnung nicht nötig gehabt, auch ohne sie würde meine Kindesliebe wissen, was sie zu thun hat. Aber ich meine doch, daß diejenige von uns, die nur noch ausruht vom Leben, der andern, die mitten darin steht, wirkt und schafft, die da kämpft um ihre Existenz, sich fügen würde.

„Na also, geh’ doch nur,“ lamentierte die alte Frau, „kannst ja gleich gehen, ich habe es dir sofort angemerkt, daß dir der Boden hier unter den Füßen brennt.“

„Lieber Gott, ich kann doch nichts dafür, daß der Vater uns keine Reichtümer hinterlassen hat,“ sagte das Mädchen.

„Ja, wenn ich recht reich hinterblieben wäre, dann würdest du wohl stillsitzen bei der alten Mutter, aber so ein altes Bettelweib mit fünfhundert Mark Pension – das mag doch allein zusehen, wie es fertig wird!“

„Du hast ganz recht,“ sagte Aenne fest, aber merklich heiser, „eben weil wir arm sind, muß ich hinaus und darf deine fünfhundert Mark nicht noch mit aufessen, sie werden ohnehin kaum für dich langen. Die Stimme erstickte ihr vor Aufregung und sie ging schnell hinaus.

Tante Emiliens zur höchsten Empörung gereiztes Organ scholl hinter ihr her. „Seid ihr denn nur alle ganz von Gott verlassen?“ rief die alte Dame. „Ist denn ein Mädchen, weil es nicht geheiratet hat, gerade nur gut genug, um dahin gestoßen und geschubbt zu werden, wohin es die eigensinnige Frau Mutter und die freundlichen Herren Brüder für gut befinden? Hat sie sich dafür gequält mit ihren Studien, Tag und Nacht, um fortan hier in Breitenfels zu versauern? Glaubt ihr denn nicht, daß sie an ihrem Beruf hängt, oder habt ihr so wenig Verständnis, so wenig Achtung vor der Kunst? Glaubt ihr denn, ihr Egoisten, ihr werdet sie vor Armut und Not bewahren können, wenn sie ihre Kräfte jetzt nicht nutzt – ihr beiden armen Teufel, die ihr selbst nichts habt – die ihr nie gegeben, nur immer genommen habt, auch die sauer verdienten Groschen des armen Mädchens!“

„Bitte, ereifere dich nicht,“ unterbrach der Lieutenant sie kühl, „und werde nicht ausfallend! Wer spricht denn davon, daß Aenne ihr Gelerntes und ihre Kunst nicht ferner verwerten soll? Ihre Konzertreisen kann sie doch von hier aus ebenso gut machen wie von Dresden aus, das ist meine Meinung. „Das kann sie nicht!“ schrie Tante Emilie mit einer Stimme, wie man sie ihr nie zugetraut hätte, „sie muß in der Kunst leben, sie muß Musik hören, gute Musik; sie will weiter streben, weiter lernen, das geht nicht hier, und kurz und gut, ich habe das Kind ausbilden lassen und habe infolgedessen auch ein Wort mitzureden! Aenne geht zurück nach Dresden, und wenn die Mutter vernünftig ist, so folgt sie ihr – wenn nicht, dann bleibt sie allein hier, oder einer von euch quittiert und zieht zu ihr, denn ihr seid ihre Kinder so gut wie Aenne – das habe ich gesagt!“

Frau Rat war still vor Entsetzen, auch die beiden Söhne schwiegen; Walter, der Referendar, murmelte nach einem Weilchen: „Verrückte Weiberwirtschaft!“ Als aber plötzlich das Weinen der Mutter aufs neue begann, da kam er leise herüber zu seinem Bruder und flüsterte ihm zu. „Du, laß uns nur ’mal fortgehen, ich schnappe hier über! Und so konzentrierten sie sich beide rückwärts und gelangten unbemerkt auf die Straße.

Als Frau Rat aus ihrem Weinanfall wieder zu sich kam, stand Aenne neben ihr. „Bitte, Mama, setze dich an den Tisch, es ist ein Brief gekommen – Tante bringt gleich die Lampe“. Und sie nahm freundlich die Hand der Mutter und leitete sie zum Sofa. „Mein gutes, altes Muttel“, sagte sie leise und küßte sie. Aber Frau Rat fand sich zu schwer gekränkk, sie erwiderte den Kuß ihres Kindes nicht.

Ein paar Minuten später war das Zimmer erleuchtet und die alte Frau las den Brief mit dick verweinten Augen. Es war ein Schreiben aus der Herzoglichen Kammer, wonach der Witwe des verstorbenen Medizinalrats May das unentgeltliche Wohnungsrecht in dem Hause, das sie bisher mit ihrem Manne inne gehabt habe, durch des Herzogs Gnade bis an ihr Lebensende verliehen sei.

„Doch einer, der Mitgefühl hat,“ sagte sie, „doch einer!“

Aenne rührte sich nicht. Sie hatte eine Handarbeit genommen und nähte. Nun war ihre Sache ganz verloren, das fühlte sie.

„Ihr freut euch wohl gar nicht?“ fragte die Mutter scharf.

„Ach, Mama,“ antwortete Aenne, „ich kann mir ja denken, wie schwer es sein muß, von einem Ort fortzugehen an dem man so lange Jahre glücklich war! Jetzt – freilich – wirst du hier bleiben?“

„Und du also zu mir kommen?“

Aenne sah sie nur groß an, und plötzlich mußte die Mutter den Blick senken vor diesen stillen, ernsten Mädchenaugen. „Es ist deine Pflicht“, murmelte sie verlegen.

„Ja, Mutter, und sie wird mir leicht werden, denn ich habe dich sehr lieb,“ sagte Aenne herzlich.

„Ich habe keine Kinder gehabt,“ brummte Tante Emilie, „aber so viel verstehe ich denn doch davon, daß Pflichten immer gegenseitig sind.“

„Tante!“ bat Aenne.

„Was hat sie gesagt?“ forschte Frau Rat mißtrauisch.

Das Klingeln der Hausthür enthob Aenne einer Antwort, dann brachte das Dienstmädchen eine Visitenkarte herein. ,Dr. med. Lehmann, praktischer Arzt’, stand darauf.

Frau Rat wußte von ihm nur, daß er sich vor einiger Zeit im Städtchen niedergelassen hatte. Sie sagte dem Mädchen, sie lasse den Herrn Doktor bitten, einzutreten.

Aenne erhob sich, um hinauszugehen, aber die Mutter rief ihr ungeduldig zu, sie solle bleiben. Tante Emilie ließ sich indes nicht halten. Doktor Lehmann trat herein, ein junger, etwas untersetzter Herr, dem die Mensurschramme über der linken Wange gut zu der frischen Art seines Auftretens stand und dem es sichtlich schwer fiel, seinen offenen lebenslustigen Zügen den von der Situation geforderten Ernst zu geben. Nach mehreren Höflichkeiten über den Tod des verehrten Herrn Kollegen rückte er heraus mit dem, was er wollte. Er habe gestern abend vom Rentmeister gehört, daß die verehrte Frau Rat hier wohnen bleibe. Nun komme er, zu fragen, ob vielleicht Frau Rat geneigt sei, ein paar Zimmer an ihn zu vermieten. Sie möge ja entschuldigen, daß er schon jetzt, während der tiefen Trauer, danach frage, indessen der nahe Kündigungstermin treibe ihn dazu, und in der untern Stadt seien bereits mehrere Kollegen ansässig, und Frau Rat wisse auch wohl, daß es einem Anfänger immer recht schwer gemacht werde, und so hoffe er –

Aenne stand plötzlich auf und ging hinaus. Es war ihr peinlich, zu hören, wie seine Bitte abgelehnt wurde, und daß die Mutter ablehnen würde, glaubte sie bestimmt. Sie setzte sich, in ihren Schmerz versunken, in der Küche auf den Stuhl am Herd, auf dem sie schon als kleines Mädchen so gern gesessen hatte, um in die zuckenden, spielenden Flammen zu schauen sie hatte so oft in Dresden von diesem traulichen Plätzchen geträumt. Heute wanderten ihre Gedanken von hier nach Dresden, in ihr liebes kleines Heim unterm Dach, wo sie so viel gelernt hatte, unter anderem auch, wie man sein thörichtes, sehnsüchtiges Herz bezwingt, wie man zufrieden wird. – Fahr’ wohl, du schönes Leben voll Arbeit und frischer Schaffenskraft! Was wird ihre Lehrerin sagen? Was alle die Konzertunternehmer, denen sie sich verpflichtet hatte auf ein Jahr hinaus? Ein Weilchen würde es ja gehen von hier aus, aber dann – dann würde es heißen die May schreitet nicht mehr vorwärts, dann wird sie so langsam verschwinden aus dem Gedächtnis der Arrangeure und des Publikums, und dann

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_266.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)