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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

spät ist es denn?“ Aenne sollte um zwei Uhr auf der Station eintreffen.

Der Oberförster sah Hede Kerkow scheu von der Seite an. Das trübe Licht des Dezembertages zeigte ihm ein ganz verändertes, vergrämtes Gesicht, die heitere wohlthuende Ruhe war verschwunden, es lag etwas Gespanntes darin; auch die Bewegung der Hand – sie strich wie gedankenlos die Rechte der alten Frau, die schlaff über die Lehne des Stuhles hing – war nervös.

In diesem Augenblick erschien das Mädchen und meldete, es könne keinen Wagen auftreiben, um das Fräulein abzuholen; alles sei zur Holzauktion und die feinen Kaleschen hätten Ballfuhren auf den Abend.

„Ich werde es Heinz sagen, Frau Rätin, sein Wagen kann fahren,“ erklärte Hede Kerkow.

„Ach Gott,“ jammerte die alte Frau, „giebt es denn keinen, der sich erbarmt und sie darauf vorbereitet, daß ihr Vater schon tot ist? Sie weiß ja nur, daß er schwer erkrankte!“

„Doch, Frau Rätin, ich will mitfahren,“ Hede nahm ihren Mantel wieder um und ging. –

Heinz lehnte im Sofa und las ein Aktenstück, das Erkenntnis des Gerichtes – seine Ehe war geschieden! Heini, der einen größeren Fahrstuhl bekommen hatte, saß, von Polstern unterstützt, aufrecht und malte mit der linken Hand Buchstaben auf eine Schreibtafel, die rechte konnte der kleine Kerl nicht gebrauchen. Hede trug kurz ihre Bitte vor, und der Bruder bestellte sofort das Anspannen.

„Möchtest du das arme Mädchen nicht abholen?“ fragte Hede, nachdem der Diener gegangen war, „ich fühle mich so abgespannt,“ setzte sie zögernd hinzu. In Wahrheit wollte sie ihn aufrütteln aus seiner Lethargie.

„Fräulein May abholen? Ich? – Nein! eine Frau versteht es besser, derartige Mitteilungen zu machen. – Ich – ich bitte dich, verlange das nicht!“ antwortete er.

Er starrte sein Aktenstück wieder an, verschloß es dann in seinen Schreibtisch, ergriff eine Zeitung und begann zu lesen. So that er immer, wenn er allein zu sein wünschte.

„Verzeih’ mir!“ murmelte sie, strich noch einmal über Heinis Blondhaar und verließ das Zimmer.

Heinz sah sie abfahren vom Fenster aus, aber er dachte kaum noch an den traurigen Zweck dieser Fahrt. Er war ein ganz gebrochener, fast stumpfsinniger Mensch geworden – und das wußte er selbst am besten, er – für den es nur noch ein Lebenswertes auf der Welt gab, das Kind. Von heute an war er ein freier Mann, aber er wußte nichts mehr anzufangen mit dieser Freiheit. Und wenn er auch die Energie noch gehabt hätte – das Kind durfte er doch nicht mit hinausnehmen in das ungewisse Leben, in die weite Welt, wo er einen Platz sich erst suchen mußte, der seinen Neigungen entsprach, aber auch seinen Kräften, seinem Können. Es ist heutzutage wahrhaftig nicht leicht, etwas zu finden, und er hatte ja auch in diesem erzwungenen Müßiggang die Kräfte erlahmen lassen.

Das Kind würde nie gesunden, aber Doktor May hatte noch bei seinem letzten Besuche gestern gesagt, er habe eine Rassekonstitution, der Kleine, er werde leben bleiben, und vielleicht, wenn die chronische Entzündung vorüber, könne man es versuchen, ihn das Gehen an Krücken zu lehren. Und dann hatte er Heinz auf die Schulter geklopft und hinzugefügt. „Er kann Ihnen auch so Freude und Ehre machen, er hat Kopf, er denkt. – Man muß immer auf Ueberraschungen gefaßt sein im Leben. Hätt’ ’s auch nicht geglaubt von meiner Aenne, daß sie ’mal – na – – guten Morgen Herr von Kerkow!“

Heute lag der gute alte Mann dort unten starr und kalt! – Und Aenne kam nach Hause, an sein Totenbett, Aenne, die es zu etwas gebracht hatte im Leben. Heinz aber las, seitdem ihr Name in den Blättern genannt wurde, nie mehr die Rubrik „Kunst und Wissenschaft“ in der Zeitung. Dies junge zarte Mädchen hatte ihn beschämt, aus eigner Kraft hatte sie sich losgerissen von einem Mann, den sie nicht liebte, hatte sich trotzig auf ihre kleinen Füße gestellt mit einer Sicherheit, die staunenswert war. Ebenso arm und aussichtslos wie er, hatte sie es gewagt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen und – hatte gesiegt; er war tot, lebendig tot! Und dazu bemächtigte sich seiner in dieser Einsamkeit zu zweien – er und das kranke Kind – eine unheimliche Angst. Er dachte beständig an die Schwester im Irrenhause, und dann kamen Stunden, furchtbare Stunden, die er mit sich allein durchkämpfte, denn Hedwig mochte er nicht ängstigen durch den Gedanken, daß auch er –?

Das Mädchen that ihm so leid, aber er verstand sie nicht mehr, und sie nicht ihn. Sie war womöglich noch niedergedrückter als er. Im Anfange hatte sie noch versucht, ihn zu ermuntern, hatte dies und jenes ihm vorgeschlagen. Ohne es zu wissen, bereitete sie ihm damit nur eine unerträgliche Pein. So knüpfte sie einmal ihre Ratschläge an seine dichterischen Neigungen, denen er sich bereits als Kadett hingegeben hatte. Ob er die Verse noch habe, die er zuweilen heimgeschickt, fragte sie ihn. Sie bewahre mehrere davon auf, ob sie es einmal an ein litterarisches Blatt senden dürfe? Sie sei überzeugt, es werde reüssieren.

Er hatte darauf gelacht wie toll, so toll, daß ihm die Thränen in die Augen getreten waren, hatte sie auf die Schulter geklopft und gesagt. „Guter Kerl, gieb dir keine Mühe!“

„Wenn du die Verse gleich illustriertest,“ war ihre schüchterne Einwendung gewesen.

„Weiter nichts? Na, laß nur gut sein, mir thut der Kopf weh vom Lachen!“ Und er sah sie an mit einem Blick, in dem so viel Schmerz und Pein lag, daß sie erschrocken schwieg.

Ach, diese Oede! Diese Wüste, die vor ihm lag, vor ihm, dem Schloßhauptmann von Kerkow! Wenn endlich die Zeit um sein würde und seine Kräfte verbraucht, dann pensionierte man ihn wahrscheinlich mit dreihundert Thalern. – Das einzige, was ihn noch retten könnte, war ein Krieg, aber trotz all dem Revanchegeschrei von drüben und aller sonstigen drohenden Anzeichen – es blieb Friede.

Gott sei Dank, mochte er bleiben! Um einer verpfuschten Existenz aufzuhelfen, dazu waren doch schließlich die Kriege nicht da! Und dann das Kind, und wieder das Kind! Hede besaß solch’ komische Art, mit dem kleinen Menschen umzugehen, der die ganze verbitterte, gleichgültig ironische Art des Vaters angenommen hatte, sie wollte ihn behandeln wie die pausbackigen Oberförsterkinder, die noch an Märchen glaubten. Heini liebte die Märchen nicht, „denn ich weiß besser, daß es keine Zauberer giebt, es geht alles natürlich zu,“ erklärte das fünfjährige Kind. „Es giebt auch keine guten Feen, denn wenn’s solche gäbe, hätte Papa eine zu mir geschickt, die mich gesund machen könnte. Er wollte von Tante Hede „wirkliche Geschichten“, und die Qualen, die der Dauphin von Frankreich erlitten, konnte er immer wieder hören. „Seinen Papa hat man geköpft,“ sagte er, „ich habe meinen Papa, der kleine Ludwig war viel schlimmer dran als ich, Tante Hede, und war doch ein Prinz!“

Die Tante, die aus der gesunden Kinderstube des Oberförsters kam, fror es in dieser Atmosphäre von Krankheit, Resignation und Altklugheit. Und doch, das Kind hatte so rührende Züge! Um seinen Vater nicht zu stören, konnte es stundenlang Schmerzen erleiden, ohne zu klagen, konnte ein Uebelbefinden geradezu verheimlichen. Seitdem Heinz Kerkow von seiner Frau verlassen war und sich gewöhnt hatte, stundenlang in dumpfem Brüten zu verharren, eine Cigarre nach der anderen dabei rauchend, hatte das Kind eine zärtliche Rücksicht für ihn, so, als sei der große Mann der Kranke, der gepflegt und geschont werden müßte.

Warum hast du die Dame nicht abgeholt, Papa?“ fragte er jetzt plötzlich, „und was ist denn das für eine traurige Mitteilung, die du ihr nicht machen willst?“

Heinz kam zu seinem Sohn herüber und faßte dessen Hand. „Mein Junge, du mußt es ja auch wissen,“ sagte er, „dein guter Onkel Doktor ist gestorben. Er war alt und müde und ruht nun aus – das ist der Lauf der Dinge.“

„Der Lauf der Dinge“, sprach Heini nach. „Als Großtante Gruber starb, sagtest du das auch.“

„Ja, Heini, das Leben macht müde; das Alter ist der Abend, und wenn die Nacht kommt, schlafen wir.“

Heini nickte. „Ich bin sehr traurig, Papa, ich hatte ihn lieb.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_262.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)