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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

In dieser frohen Voraussicht und zugleich in der Hoffnung auf Wiedererlangung des Tagebuches konnte Lotte die Stunde kaum erwarten, wo der Vetter Ludwig wiederkam. Sie hatte sich schon geistig Und moralisch in Positur gesetzt, um seine flehentlichen Bitten um Verzeihung mit möglichst majestätischer Manier zunächst gänzlich von der Hand zu weisen und erst viel später unter von ihr gestellten Bedingungen vielleicht zu gewähren.

Der wohlbekannte Schritt des Dickus ließ sich denn auch zur programmmäßigen Zeit vernehmen, fröhlich und unbefangen wie ein Mensch mit einem Gewissen erster Qualität, kam er ins Zimmer.

Er hatte sogar noch die Unbescheidenheit, Lotte am Zopf zu ziehen und sich bei ihr zu erkundigen, wie sie denn die Trennung von ihm überlebt hätte.

Lotte riß ihm mit Ungestüm ihren Zopf aus der Hand und würdigte die Frage keiner Antwort.

„Thu nur nicht so!“ sagte sie mit unverhohlenem Abscheu, „die Eltern wissen alles – und ich auch: du hast es!“

Der Dickus sah aus wie die Unschuld in Person, wenn man sich diese 200 Pfund schwer vorstellen kann.

„Ich habe es?“ frug er mit hochgezogenen Augenbrauen, „Was hab’ ich denn? Dein Wohlwollen? Daran habe ich zu meinem Glück noch nie einen Augenblick gezweifelt!“ Lotte stampfte mit dem Fuß.

„Papa, sag’ du ihm, daß er mir’s wiedergiebt!“ rief sie ungeduldig, „vor mir hat er doch keine Angst!“

Der Vater, der sich schon zum Ausgehen gerüstet hatte, lachte.

„Na ja, Ludwig,“ sagte er dann, „der Scherz hat lange genug gedauert; gieb ihr’ jetzt ihr Tagebuch wieder – sie hat eine Heidenangst darum ausgestanden!“

„Ihr Tagebuch?“ wiederholte der Dickus, noch immer ganz Erstaunen und Seelenreinheit, „aber, lieber Onkel, ich habe doch das Tagebuch nicht!“

Er machte ein so ehrliches, treuherziges Gesicht zu dieser Versicherung, daß der Vater und Lotte eine Weile ganz betroffen waren und nicht recht wußten, was sie davon zu halten hatten. Lottes Antlitz verzog sich schon wieder aufs schmerzlichste.

„Wenn er’s auch nicht hat!“ sagte sie dann mit brechender Stimme, „wo ist es denn dann aber?“

„Wißt ihr was?“ sagte der Vater, dem der Dickus inzwischen mit diabolischer Fröhlichkeit zugezwinkert hatte, „macht die Sache unter euch ab! Ich muß aufs Amt. – Hoffentlich geht’s ohne Mord und Totschlag ab, Ludwig – ich gestehe dir offen, daß ich jetzt nicht in deiner Haut stecken möchte!“

Und er verließ lachend das Zimmer.

Der Dickus schlug die Augen zur Zimmerdecke empor.

„Ich Lamm!“ sagte er, „ich soll Tagebücher haben!“

Lotte war inzwischen auf einen Stuhl am Fenster gesunken und trocknete sich die Thrätten – heimlich – denn den Triumph wollte sie ihm nicht gönnen.

Der Dickus betrachtete sie eine Minute lang mit Schadenfreude.

„Na“, sagte er dann phlegmatisch, „wenn du die Schleusen ziehst, da will ich nur nicht so sein! Also – haben habe ich’s nicht – aber ich weiß, wo es ist, und wenn du sehr schön bittest – so mit Pfotchen, wie der Ami“ –

Lotte ließ ihn nicht ausreden – sie sprang mitten im Satz auf ihn zu, als wenn sie ihn schütteln wollte.

„Du sagst es!“ rief sie leidenschaftlich, „sofort sagst du es, oder ich reiße dich am Schnurrbart! Papa hat gesagt, das thäte maßlos weh! Also nun weißt du, was ich thue! Wo hast du mein Tagebuch?“

„Suche!“ erwiderte der Dickus, setzte sich aus Fenster und nahm eine Zeitung zur Hand.

Lotte stürzte auf ihn zu, riß ihm das Zeitungsblatt aus der Hand und warf es zerknüllt in die Ecke.

„Nicht einen Buchstaben liest du, ehe ich’s wiederhabe,“ rief sie mit vor Zorn erstickter Stimme, „ich habe schon überall gesucht – hörst du’s? Zwei Tage habe ich mir wegen dir verdorben – jetzt ist’s genug!“

„Potztausend!“ sagte der Vetter ganz wohlwollend, „du bist ja ein sanftes Engelchen! Aber siehst du, so geht’s manchmal! Ich habe dir neulich in der freundlichsten Weise Friedensvorschläge gemacht – du hast sie mit kühler Ueberlegenheit abgewiesen – ich habe dir in aller Form Rechtens den Krieg erklärt und jetzt das erste Treffen gewonnen. Du bist jetzt die Besiegte und mußt um Gnade bitten! Denke, was ich hätte thun können!“ fuhr der Dickus fort, als Lotte trotzig zur Erde sah und sich auf die Lippe biß, „ich hätte das Tagebuch lesen können – mitnehmen – ganze Seiten daraus abschreiben – ich hätte es deiner Schulmadame schicken können – ich habe nichts dergleichen gethan. Ich habe jeder Versuchung mit wahrhaft übermenschlicher Selbstbeherrschung widerstanden und es an eine Stelle gelegt, die du meiner Berechnung nach, jeden Tag sehen mußtest! Leichter konnte ich dir’s nicht machen!“

Lotte sah ihn hilflos an.

„Dickus!“ begann sie dann in sanfterem Ton.

„So ist’s schon besser!“ sagte der Vetter behaglich.

„Sag’ mir’s!“ flehte Lotte.

„Erst hole mir einen Aschenbecher!“ sagte der Dickus roh. Lotte kämpfte einen schweren Kampf.

„Na?“ frug der Dickus, „sei froh, daß du ihn bloß holen sollst, ich könnte ja auch verlangen, daß du damit vor mir auf die Kniee fällst – ich mache es noch billig genug!“

Der Backfisch ging schweigend nach dem nächsten Zimmer und kam mit einem Aschenbecher zurück, den sie mit sichtlichem Abscheu vor den Vetter hinstellte.

„Siehst du,“ sagte der Dickus, „als ich dich neulich ’mal um einen Aschenbecher bat, sagtest du: ,Fällt mir gar nicht ein, ich muß jetzt üben!’ Weißt du es noch?“

„Und ich mußte auch üben!“ gab Lotte scharf zurück, „denkst du, jeder kann so faulenzen wie ein Referendar?“

„Ein kühnes Wort!“ meinte der Dickus, „aber bleiben wir einmal bei der Sache! Uebst du wirklich jeden Tag? Jeden Tag?“ wiederholt er mit großem Nachdruck.

„Jeden!“ versicherte der Backfisch mit eherner Stirn.

„Hübsch von dir!“ meinte der Vetter anerkennend. „Und nun will ich dir ’mal was sagen! Die erste Bedingung hast du erfüllt – wenn auch nicht freudig –– die zweite ist: gieb mir einen Kuß – und du kriegst dein Tagebuch wieder!“

Lotte sprang einen Fuß weit zurück „Dir einen Kuß?“ rief sie überlaut, „du Greuel! Lieber esse ich mein neues Tagebuch samt dem Deckel auf!“

„Schön!“ sagte der Dickus mit männlicher Fassung, „ich werde auch das überleben. Also diese Bedingung ist bedingungslos abgeschlagen? Dann mußt du eine andere erfüllen.“

„Und die wäre?“ frug Lotte mißtrauisch.

„Du schreibst, was ich dir vorsage – hier – in mein Notizbuch – drei orthographische Fehler sind in fünf Zeilen gestattet.“

Lotte überhörte diese neue Niedertracht und nahm zögernd den Bleistift zur Hand.

„Also!“ begann der Dickus, „schreibe: ‚Lieber guter, reizender Vetter Ludwig‘ –“

„Nein!“ rief Lotte und warf den Stift weg, „solchen Unsinn schreibe ich nicht!“

„Dann werde ich schreiben!“ sagte der Dickus kaltblütig, „und du unterzeichnest, zum Beweis des vollen Einverständnisses. Sowie ich deine Unterschrift habe, führe ich dich dahin, wo dein Tagebuch liegt, – sonst nehme ich es heute abend mit, schneide es auf und lese es von Anfang bis zu Ende! Na – wie ist’s?“

Da keine Antwort kam, schrieb er einige Zeilen in sein Taschenbuch, während Lotte vor Grimm, Ungeduld und Neugier von einem Fuß auf den andern trappelte.

„Hier!“ sagte der Vetter und schob den Stift an seine Stelle, „jetzt werde ich dir vorlesen. Also: ‚Lieber, guter, reizender Vetter Ludwig! Ich verpflichte mich, Dich von heute an wie den liebenswürdigsten, nettesten und schlanksten Vetter zu behandeln, Dich nie mehr – auch nicht ’mal in Gedanken – Dickus zu nennen, nie mehr naseweis zu sein. Dafür bist Du so überaus liebenswürdig, mir mein Tagebuch wiederzugeben und es mir erst dann wieder wegzunehmen, wenn ich Dir selbst die Erlaubnis gebe, es zu lesen.“

„Da kannst du lange warten!“ warf Lotte ein.

Der Vetter schlug die Arme übereinander und sah sie mit eisig festem Ausdruck an.

„Unterschreibe!“ sagte er dann, „du kennst mich jetzt!“

Lotte schwankte zwischen Zorn und Lachen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_258.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)