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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

nach kurzer Frist, durch „Aussetzen“ bis zur äußersten Dünnleibigkeit abgemagert, dem Küchenofen als willkommene Beute überliefert. Sein Nachfolger im Reiche pflegt das schon prunkend und anspruchsvoller auftretende „Album aus dem Fünfzigpfennigbazar“ zu sein, welches die großartig klingende Aufschrift „Poesie“ in herrlicher Goldfarbe und mit einem kühnen Riesenschwung auf dem Deckel trägt, sich aber ungeachtet dieses vielverheißenden Signalements auch geduldig mit Prosa und Tintenklexen vollschmieren läßt. Schließlich gipfelt der Tagebuch-Raptus in einem wunderbar schönen, ledergebundenen Folianten „mit Schloß“ eine unerläßliche Bedingung, die zugleich ein wichtiges Symptom für den Seelenkenner des weiblichen Geschlechts bedeutet und anzeigt, daß der Backfisch für jemand „schwärmt“, der aber durchaus kein junger Herr zu sein braucht. Es kann vielmehr ebensogut ein anderer Backfisch, eine erwachsene, junge Dame – in schweren Fällen eine Schauspielerin – in den ungefährlichsten ein längst verstorbener Dichter sein. Das Schwärmen, das bewußtlose, ziellose „Verhimmeln“ ist Selbstzweck – auf den Gegenstand kommt es in den meisten Fällen weniger an.

Lotte, unser Backfisch, war seit vorigen Weihnachten auch in das obenerwähnte Stadium getreten und befand sich im Besitz eines Tagebuches, das ein gütiger Onkel ihr in liebenswürdigster Weise verehrt hatte.

Das Tagebuch, in der Backfisch-Phraseologie mit dem Beiwort „göttlich“ bezeichnet, hatte auch richtig ein Schloß – ein bezauberndes, süßes Vorlegeschloß mit einem „wonnigen“ Goldschlüsselchen das sofort an eine abgedankte Kneiferschnur des Vaters befestigt und von der Besitzerin um den Hals getragen wurde.

Dieser Schlüssel ging bereits am Weihnachtsabend das erste Mal verloren und bekundete dadurch die boshafte und entschiedene Absicht, dieser üblen Angewohnheit des öfteren zu frönen. Wie oft und wo überall Lotte ihren Tagebuchschlüssel suchte und verlor, das spottet jeder Beschreibung.

Es gab bald kein Sofa und keinen Schrank mehr in der Wohnung, unter dem sie nicht mit dem halben Leibe gesteckt hätte – sie fuhr bis an die Ellbogen in die Polsterung der Lehnsessel und grub darin wie ein Schatzgräber – sie durchwühlte die Regentonne im Hofe bis auf den Grund. Sie fand den Schlüssel schließlich mit Jubelgeschrei, um ihn am Abend desselben Tages wieder zu verlieren.

Im Sommer, wo der Sport des Schwimmens eifrig betrieben wurde, geschah es durchschnittlich – ohne Uebertreibung! zwei- bis dreimal die Woche, daß Lotte bei der Mahlzeit mit dem Schreckens- und Weheruf in die Höhe fuhr. „Ich habe meinen Tagebuchschlüssel in der Schwimmanstalt vergessen!“ Sie stellte bei diesen Anlässen sogar das flehentliche, jeder Haus- und Tischordnung freventlich ins Antlitz schlagende Verlangen, sofort von Tisch aufstehen und dem Verlorenen nachjagen zu dürfen.

Die Geschwister fanden, versteckten und stahlen nebenbei den Schlüssel und das Buch noch unaufhörlich und ließen sich „gemeinerweise“ jedesmal Lösegeld geben, ehe sie beides wieder herausrückten. Lotte sah sich infolge dieser Zwischenfälle schon in den zerrüttetsten Vermögensverhältnissen und trug das bedrückende Bewußtsein mit sich umher, einer Freundin zehn Pfennig für einen „Faber Nr. 2“ zu schulden.

Die Freundin war noch dazu so „schäbig“, mehrmals an diese peinliche Thatsache zu erinnern, was eigentlich nicht für ihr Zartgefühl sprach! Zur Entschuldigung diene ihr übrigens, daß das Taschengeld bei sämtlichen Schülerinnen der ersten Klasse augenblicklich sehr knapp war. Infolge eines neuerwachten entzückenden Sports wurde nämlich jeder Pfennig zu der unentbehrlichen und nutzbringenden Anschaffung der „Knietsche“ verwendet.

Ein Knietsch, dies zur Aufklärung für diejenigen meiner Leser, die unglücklich genug sein sollten, diese Segnung der neuesten Kultur nicht persönlich zu kennen – ein Knietsch also ist ein Stück grauen Knetgummis, aus dem sich die herrlichsten Gegenstände formen und quetschen lassen, und durch dessen Massenanschaffung die Papierlieferanten für höhere Töchterschulen auf dem besten Wege sind, Millionäre zu werden.

Daß Lehrer und Lehrerinnen mit irgend welchen Eigentümlichkeiten der Gesichtsbildung in Knietschen dargestellt wurden, ist so selbstverständlich, daß es eigentlich kaum der Erwähnung bedarf, daß aber sogar die Gestalten der klassischen Dichtkunst in der französischen Stunde in Knietschgummi nachgebildet und mit Puppenflicken buntfarbig kostümiert wurden, dürfte doch als neu und empfehlenswert der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten werden.

Lotte, die sich neben anderen Vorzügen eines besonders krausen und wirbligen Haarwuchses erfreute, der zu ihrer ganzen Persönlichkeit sehr gut stimmte, hatte noch die geniale Idee gehabt, „Verbrecher“ aus Knietschen zu bilden und sie während des Unterrichts an den einzelnen Haarsträhnen – von ihr „Galgen“ genannt – zu befestigen. Dieses sinnige Spiel vermochte aber den Beifall des Lehrers leider so wenig zu erringen, daß es Lotte fast die Vier im Betragen eingebracht hätte.

Diese Knietsche also, die, wie man sieht, zu den vielseitigsten Erzeugnissen des Weltmarktes gehören, dienten nun als Lösegeld für den Schlüssel zum Tagebuch und Lotte sah sich in dem Augenblick, von dem wir berichten wollen, auf einen einzigen und letzten Knietsch angewiesen – ein Zustand der Verarmung, der bitter zu tragen war!

Der Kummer über diese Thatsache wurde natürlich, wie jede tiefere Seelenregung, auch dem Tagebuch anvertraut, und aus der Gefährlichkeit dieses Bekenntnisses kann man ungefähr auf die des ganzen Inhalts schließen ohne sehr fehl zu gehen. Nichtsdestoweniger hütete Lotte ihr Album mit Argusaugen, legte es jede Nacht unter ihr Kopfkissen, verteidigte es kreischend und, wie ein nicht unverbürgtes Gerücht behauptet, sogar beißend gegen die Geschwister, die das Wertstück mit List und Gewalt an sich zu bringen versuchten.

Niemand – selbst die beste unter den acht besten Freundinnen nicht – durfte jemals einen Blick in die geheiligten Blätter zu thun hoffen. Da sich die menschliche Natur aber immer mehr oder weniger nach einem Vertrauten sehnt, so wurde der sehr geliebte Teckel Ami bisweilen nachmittags zu einem Lesestündchen eingeladen und es wurden ihm effektvolle Abschnitte des Tagebuchs bei verschlossenen und verriegelten Thüren mit gedämpfter Stimme vorgetragen. Dieser Vertrauensbeweis war freilich nicht so übermäßig hoch anzuschlagen, da Ami ja von der Mutter Natur zur absolutesten Verschwiegenheit beanlagt war.

Ami zeigte sich übrigens bei diesen Anlässen leider oft ungalant. Er hielt das Tagebuch zunächst seines roten Einbands wegen anscheinend für eine Cervelatwurst und bat flehentlich mit winkenden Pfötchen darum. Als ihm sein verderblicher Irrtum durch einen sanften Klaps auf die Nase und die Versicherung. „Ami, du bist ein himmlischer Kerl, aber du bist ein Schafskopf!“ genügend klar gemacht war, legte sich der Teckel zwar resigniert zum Zuhören zurecht, langweilte sich aber so sichtlich bei der Vorlesung, daß er schamlos und schreiend gähnte und mitten in einem gefühlvollen Passus aufsprang, um sich der völlig aussichtslosen Jagd auf eine große Brummfliege hinzugeben.

Die gänzliche Teilnahmlosigkeit, die in diesem Betragen lag, beleidigte die Besitzerin natürlich aufs tiefste und kühlte sie sogar auf einige Zeit gegen Ami ab, der sonst von ihr als „Heldengestalt“ mit entzückenden schwarzen Ellbogen in einer jedem denkenden Menschen rätselhaften Weise gefeiert wurde. Zu der Zeit, als alles dieses sich begab, war inzwischen das Tagebuch beinahe voll geworden, und die Zahl der leeren Seiten schmolz bedenklich hin. Lotte lieh dieser Thatsache im Familienkreise Worte und fügte den kaum mißzuverstehenden Wink hinzu. „Ich habe keine Ahnung, wo ich ein neues Tagebuch herbekommen werde!“

Der Vater schenkte sich ein frisches Glas Wein ein – man war bei Tisch –, „ich auch nicht!“ meinte er mit unheilverkündender Gleichgültigkeit.

„Soll ich dir eins schenken, Cousinchen?“ frug der eben anwesende Vetter Ludwig, ein lustiger, neugebackener Referendar, der sich in zehn Semestern fast bis zu zwei Centnern Schwere emporgekneipt hatte. Infolge dieser wohlhabenden Körperbeschaffenheit wurde der von den Eltern sehr wohlgelittene und wirklich nette junge Mann von Lotte schlecht behandelt und nur der „ekliche Dickus“ genannt.

Es muß hier zugestanden werden, daß der ekliche Dickus kein größeres Vergnügen zu kennen schien, als unseren Backfisch bis zur Verzweiflung zu necken, der, wie es seiner Gemütsart und seinem Alter zukam, dann wie eine kleine zornige Hornisse auf den Vetter losfuhr. Aber auch hinter dem harmlosesten Wort, das er sprach, witterte Lotte eine Heimtücke.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_230.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)