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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

mußte; hart am Rande des Weihers hin zog sich diese herrliche Lindenallee. Es war fast dunkel darin gewesen und völlig einsam. Er hatte sich ganz mechanisch auf eine der Bänke gesetzt und wartete auf das Unglück, das da kommen müßte, wie er sich sagte. Er hatte es im Gefühl und schalt sich darum aus, aber die erregten Nerven kamen eigensinnig auf die Idee zurück, daß dem Kinde etwas zustoßen werde.

Und ehe er es gedacht, war das Wetter losgebrochen; ein rasender Orkan, der ihn gegen einen der hundertjährigen Stämme schleuderte, als wäre der große kräftige Mann ein Rohr; Wirbel von Staub, die ihm das Sehen unmöglich machten und das Atmen benahmen; ein Tosen, ein Heulen und Krachen in den Lüften, wie sich die Volksphantasie den Jüngsten Tag vorstellen mag, dann ein kurzer blendender Schein, ein gewaltiger Donner und Fluten von Regen.

Mit ausgebreiteten Armen hatte er die Linde umfaßt, wie betäubt, dann meinte er durch das Rauschen ein Stampfen und Trappeln zu hören, einen gellenden Hilferuf. Als er vorwärts getaumelt war, hatte er nicht weit von sich im Scheine eines neuen Blitzes ein gestürztes Pferd gesehen, ein zweites sich hochaufbäumend, einen niedergebrochenen Wagen und etwas Weißes unter den Rädern, etwas Kleines, Weißes. Er war hinübergestürzt – er weiß heute noch nicht, wie er dieses Kleine, Weiße gefunden in dem nachtschwarzen Wettergraus, wie er es an sein Herz gedrückt unter dem durchnäßten Rock, wie er vorwärts getaumelt in dem strömenden Regen, ohne sich zu kümmern um das, was hinter ihm zurückblieb, um die nervösen, schrillen Angstrufe der Frauenstimme!“

Sie lebte ja noch – das, was er hier hielt, war starr, war tot, mutwillig vernichtet.

Der Regen war an seinen Kleidern hinuntergeströmt, als er ohne Hut, mit stieren Augen und bleichem Gesicht in das Haus des alten Medizinalrats geschwankt war, und er hatte ihm hingehalten was er gerettet, den kleinen, weichen Kindeskörper, der schlaff und leblos in seinen Armen lag. – „Aus dem Wagen gestürzt, vermutlich überfahren – helfen Sie, retten Sie!“

Eine fürchterliche Viertelstunde verrann, bis das zarte Geschöpf ein Lebenszeichen von sich gab. Ungeachtet seiner durchnäßten Kleider war Heinz nicht von der Seite des alten Herrn gewichen und hatte jede Bemühung des Arztes mit zitterndem Herzen verfolgt. Dann war der Diener erschienen und habe bestellt, Frau von Kerkow habe vor Schrecken Nervenzustände bekommen und lasse bitten, daß der Herr Schloßhauptmann sofort mit Heini heraufkäme.

Heinz antwortete keine Silbe, der alte Herr aber fuhr den wartenden Diener an, die Gnädige solle sich ins Bette scheren und eine Tasse Thee trinken – ob sie den Heini je wiedersehe, das sei zweifelhaft!

Heinz hatte den Arm des alten Arztes gepackt. „Herr Medizinalrat –“ stöhnte er.

„Fassen Sie sich, Herr von Kerkow! – Ich thue, was ich kann.“

Ein paar Stunden später hatte Heinz, in Begleitung des Arztes, das in wollene Decken gewickelte, leise wimmernde Kind den Schloßberg hinaufgetragen, er selbst legte es in ein Bettchen, er selbst wachte bei ihm. Wie ein Rasender war er aufgefahren, als Toni sich hereinschlich, in einen weiten, eleganten Schlafrock gehüllt, bereit, jeden Augenblick in ein exaltiertes Weinen auszubrechen. Mit eisernem Griff packte er sie am Arm und zerrte sie aus der Thür, die er hinter ihr abschloß. Er fühlte, er war brutal in diesem Augenblick, aber er konnte sie hier nicht sehen, angesichts des Jammers, den sie verschuldet hatte. – –

Durch Wochen und Monate pflegte er das Kind, das ihn fast ausgesöhnt hätte mit dem Leben an der Seite dieser Frau – fast, wäre es jetzt gesund geblieben, es nur wieder geworden! Aber die völlige Genesung kam nicht, würde nie mehr kommen, und damit that sich ein Abgrund auf zwischen den Gatten, über den keine Brücke führte. Toni hatte nach jenem Auftritt am Bette des Kindes keinen Versuch gemacht, sich irgendwie die Schuld beizumessen, hatte kein Wort des Bedauerns, der Anklage für sich gefunden. An Entschuldigungen für sich ließ sie es gegen ihre Bekannten nicht fehlen; Heinz gegenüber wagte sie das nicht.

Wie Schatten glitten die beiden Menschen aneinander vorüber.

Sie konnte das leidende, manchmal ungeduldige Kind kaum sehen. Als sie einmal im Zimmer ihres Mannes war, um über irgend eine Angelegenheit, die es unumgänglich notwendig machte, mit Heinz zu reden, trat sie hinter seinen Stuhl am Schreibtisch – neben ihm war kein Platz, da stand das Wägelchen mit dem Kinde. – Sie fragte kurz und bekam kurze Antwort, sie hatte gehen können aber sie wollte noch etwas, nicht mehr und nicht weniger als das, ob Heinz sie auf einen Maskenball in Brendenburg, der nächsten preußischen Kreisstadt, begleiten werde, den die dortigen Kürassieroffiziere veranstalteten und auf den sie schlechterdings nicht allein gehen könne! Es mußte ihr viel daran liegen, denn sie bat um sein Mitkommen.

Er wandte sich um und sah sie empört an. „Ich bin angesichts dieses“ – er deutete mit der Hand aus das Kind – „nicht im stande, auf Bälle zu gehen!“

„Mein Gott,“ sagte sie eisig, „es ist ja ein großes Unglück, aber man kann doch deshalb nicht sein Leben lang Trübsal blasen.“

„So geh’, wenn du diese Ansicht hast!“

„Ich kann nicht allein gehen, das weißt du; du bist verpflichtet, mich zu begleiten.“

„Ich fühle mich verpflichtet, bei dem armen Geschöpf zu bleiben, das du in deinem Eigensinn zu einem schrecklichen Leben verdammt hast. Eine weitere Pflicht kenne ich vorläufig nicht!“

Der kleine Kranke mochte sich erschrecken vor den strengen Worten, er fing laut zu kreischen an. Tonis heftige Erwiderung ging unter in diesen kreischenden Tönen. Da sprang sie mit funkelnden Augen neben das Kind und schrie ihm ein gellendes „Ruhig!“ zu, indem sie auf das abgemagerte Händchen schlug.

In namenlosem Schreck verstummte das Kind, die großen Augen wurden starr und verschwanden fast unter den Lidern; das ganze Gesichtchen zuckte wie im Krampf. Aber gleich einem gereizten Tiger sprang Heinz auf, erfaßte sie an der Schulter und rüttelte sie wie einen jungen Baum. „Du! Du!“ stieß er hervor, „bist du denn ein Mensch, bist du denn ein Weib?“ Dann ließ er sie los, daß sie schwankend und stumm auf den Teppich sank, warf sich vor dem Bettchen auf die Kniee, ballte die Fäuste vor seiner Stirn und brach in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.

Am Abend erst löste sich der Krampfanfall bei dem Kleinen. Heinz Kerkow aber vergrub fortan die Sehnsucht nach dem Leben, nach Freiheit, nach all dem Schönen, Großen, was er einst vermißte, tief in seine Brust.

In dieser Leidenszeit konnte er nicht mehr arbeiten. Mehr und mehr sah er ein, daß sein Junge ein Krüppel zeitlebens bleiben würde. Er war für keinen ordentlichen Beruf mehr tauglich; er brauchte nur einen Wärter und Pfleger. Dieser Gedanke trieb Heinz von seinem Schreibtisch, von der Arbeit an seinem neuen Werke fort an das Bettchen seines Kindes.

Dann, eines Tages, der trüb und regnerisch anhob, kam eine neue Prüfung. Es erschienen Leute mit Wagen und Kisten, um die Bücherei von Breitenfels nach der Residenz überzuführen. Heinz sah, wie die Bücher verpackt wurden, und es war ihm, als ob man vor seinen Augen liebe, gute Freunde einsargte. Er mußte alle Kraft aufwenden, um sich zu beherrschen um nicht zu weinen wie ein Knabe.

Als er einige Tage darauf durch die leeren Bibliotheksräume schritt, fühlte er, daß es auch in seinem Inneren öde und leer geworden war. Halb Wahrheit, halb Dichtung waren seine ersten Schriften, auf geschichtlichen Studien waren sie gegründet. Ohne diese Quellenwerke, die man ihm weggenommen, konnte er nicht weiter schaffen.

Warum auch mußte das Schicksal immer und immer ihn so hart treffen! In der Jugend hatte er auf seine Neigungen verzichten, seine erste wahre Liebe hatte er aus dem Herzen reißen müssen, um sich nutzlos für Mutter und Schwestern zu opfern! Das schien überwunden, in seinem Kinde wollte er aufleben – vergebens! Das Verhängnis verfolgte ihn – was sollte er weiter gegen diese finstere Macht ringen?

Er existierte nur noch für den kleinen krüppelhaften Jungen, der ihm alles war in diesem Dasein. Wenn der sterben sollte, dann – dann wollte er auch nicht weiter leben. Er nahm kaum noch teil an dem, was draußen passierte in der Welt, öfter blieben die Zeitungen unberührt; er ging nicht mehr, wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_186.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2018)