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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

erste württembergische Pfarrdorf, hatte die feste Nachtruhe schon oft genug durch die Fanfaren des badischen Schwagers gestört sehen müssen; „’s ist halt der Badische widder,“ sagten die Enzberger und drehten sich verdrießlich in ihren Betten um; „der Bursch’ giebt ka Ruh’ – nit möglich, daß er ’s Muhl halt’t.“

Aber in Illingen kam der württemberger Schwager an die Reihe; der trieb’s gelassener, obschon er noch nicht vierzig Jahr alt war. In Vaihingen hatte der seinen Herzensschatz und da wurde zwar geblasen, daß die Fenster des Wirtshauses „Zum wilden Mann“ klirrten und ächzten und vom alten Schloß herunter dreimal das Echo schmälte; nachher aber ging’s ruhig, kein Hund bellte und selbst die Hähne krähten nur hin und wieder.

Doch das Mädchen in der Beichaise hatte jetzt nur noch unruhigen Schlaf. Als sie von dem Horngeschmetter des Postillons einmal aufgeschreckt worden war aus ihrem Schlummer und eine Weile vor sich hinsann, hatte sie ihren Nachbar – offenbar aus schweren Träumen – allerhand Ungereimtes vor sich hin sprechen hören, wobei das Wort „Kirchweih“ immer wiederkehrte. „Der träumt von schönen Dingen,“ hatte sie sich gesagt. „Also ein Herumstreicher ist es. Wie gut, daß er schläft und daß ich mich nicht mit ihm eingelassen habe!“ Und sie faßte ihre Hutschachtel fester. Allmählich überkam sie aber doch wieder der Schlummer.

Von Schwieberdingen bis Stuttgart gab’s noch zwei Meilen und den letzten Pferdewechsel. Der Postillon für diese Strecke war noch stiller als der vorige, vielleicht weil’s kein Spaß ist, morgens um drei oder vier Uhr aus dem Bette aufs Sattelpferd zu müssen, vielleicht auch, weil die Nähe des Hohenasperg, unheimlichen Andenkens, seine düstere Wirkung auf die um ihn wohnenden Schwaben äußert.

Aber die Lerche nahm’s mit der Gefängnisnachbarschaft nicht so genau und jubilierte – wer weiß, ob nicht eben der armen Gefangenen wegen – so hell und tröstlich in den Morgen hinein, daß die Passagiere im Hauptwagen aus dem unruhigen Reiseschlummer erwachten, sich die Augen rieben, die verwirrten Haare ordneten und einander sehr gelangweilt und unbehaglich anstarrten, als wünschte einer den anderen in die sibirischen Goldgruben.

In der Beichaise erwachte jetzt der Studiosus zuerst. Er sah nach der Uhr – „Zwei volle Stunden noch bis Stuttgart, es ist zum Verzweifeln!“ Den Bart ordnete er mit vieler Sorgfalt: „wenn mich die Liebste in diesem Bart wiedererkennt,“ sagte er im stillen, „zumal die blaue Brille noch hinzukommt, dann will ich für alle Zeiten ,Pastor Schimmelpfennig’ heißen!“ Er beschaute sich wohlgefällig im Taschenspiegel und sah dann zu seiner noch schlafenden Nachbarin hinüber; Hut und Schleier hingen vor ihr am Ledergurt des Wagendaches, sie mochte beide dort besser untergebracht glauben als in der Pappschachtel; ein weißes Taschentuch hatte sie um den Kopf geknüpft und ihr braunes Haar suchte an beiden Seiten des Gesichts Raum, sich unbeengt zu kräuseln. Der Studiosus Schelle hatte aber kaum das von der Morgenröte umstrahlte Gesicht der Schlafenden näher angesehen, als er von seinem Sitz aufsprang, die Hutschachtel umstieß und einen festen Kuß auf die Lippen des Mädchens drückte.

Mit einem Schrei fuhr sie empor.

„Hedwig!“ rief der Studiosus, „ist’s denn möglich?“

Sie wußte, halb erst erwacht, kein Wort zu antworten; beide Hände hielt sie fest auf die Wangen gepreßt und schien nicht zu fassen, was mit ihr vorgehe. Er zog aber ihre Hände fort und küßte die abwehrenden Finger. „Ich bin’s ja selber,“ rief er, „Heinrich Schelle – laß meinen dummen Bart und die blaue Brille dich nicht bange machen; erkennst du mich denn noch immer nicht? – Ei, ei – und die ganze Nacht so zu verschlafen! Das ist doch ein Schabernack! Sprich, Herzliebchen, kennst du mich auch jetzt noch nicht?“

„Freilich kenne ich dich jetzt,“ rief Hedwig, halb lachend, halb weinend, „danach hat mir keine Ader geschlagen! Der Oheim sagte immer, du kämest einmal blitz, platz; aber ich meinte, du würdest mir’s erst mit der Post schreiben!“

„Und bist du denn nicht zufrieden, närrisch Ding, daß ich selber komme statt des Briefs? Hättest du mich nur gestern spät eines Wortes gewürdigt, als ich die aufgegangene Thür neben dir schloß!“

„Das wärst du schon gewesen?“

„Wer anders?“

„Nun, der Studiosus Schimmelpfennig – der saß doch dort, oder hab’ ich alles nur geträumt? Du heißt doch nicht Schimmelpfennig?“

„Und heißt du denn etwa Anna Walder?“

„Jetzt dämmert mir Verschiedenes …“

„Daß du nämlich von mir gehört hattest: wir Gottesgelehrten in spe pflegten auf unsere Spitznamen zu reisen …“

„Aus guten Gründen! Schlügt ihr einmal übern Strang, so …“

„Genug, und da hast du denn gedacht: Warum sollen wir junge Schönheiten nicht die nämliche Vorsicht gebrauchen …“

Sie hielt ihm den Mund zu. „Schäm’ dich! Meine Tante besorgte mein Billet, und da ist es auf ihren Namen ausgestellt worden! Doch du, erkläre mir lieber, was du als Gottesgelehrter in spe in einem fort im Traum von Kirchweihen und dergleichen zu reden hattest?“

„Ich?“

„Wer anders? Ich bin davon wieder aufgewacht und hab’ mich bekreuzt und gesegnet, daß meine Hutschachtel zwischen diesem scheinheiligen Kirmesjäger und mir stand.“

„Da muß ich denn doch protestieren,“ lachte Schimmelpfennig-Schelle. „Wie dies alles zusammenhing, erzähl’ ich dir ein andres Mal, oder dein Papa mag’s dir erzählen, denn der muß mir endlich auf den richtigen Weg helfen.“

„Ob dich als Gottesgelehrten in spe die Kirmeslustbarkeiten etwas angehen?“

„Nicht mich.“

„Aber wen denn?“

„Zachäus!“

„Nun, da bitt’ ich denn doch!“

„Wie so denn! Warum heißt es denn immer: ,Zachäus auf allen Kirchweihen’?“

„Das weißt du nicht?“

„Ich habe mir die halbe Nacht den Kopf darüber zerbrochen.“

„Gut, daß der Vater nichts davon zu erfahren braucht.“

„Aber wieso denn?“

„Weil du wissen solltest, daß Zachäus regelmäßig am Kirchweihtag genannt wird.“

„Wo?“

„Auf den Kanzeln.“

„O weh!“

„Und warum wird er auf den Kanzeln genannt?“

Der Studiosus schlug sich vor die Stirn. „Lukas 19, 1 bis 10,“ sagte er.

„Ganz recht: Zachäus hat im Evangelium für die Kirchweihtage eben seinen festen Platz. Als Töchterchen eines Superintendenten merkt man sich schon allerlei Beiläufigkeiten; in euren hochgelehrten Kollegien mögen sie wohl kaum erwähnt werden!“

„Mir ist in der That ein Stein vom Herzen gefallen,“ sagte der Studiosus aufatmend, „und nun zu einem Sprichwort, das keine Zweifel herausfordert – einen Kuß in Ehren darf keine verwehren!“ –

Womit die Beschreibung dieser Nachtfahrt zu Ende sein mag, denn wie heißt es noch im Sprichwort? – Jung Volk will allein sein!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_163.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2023)