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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Sie hatte plötzlich die Kraft, sich aufzurichten, wieder vorzutreten. Mit fest zusammengepreßten Lippen sah sie die weiße Schleppe über den tiefroten Teppich gleiten, sah den Zug der Brautjungfern und Brautführer hinterher schreiten, und nun standen, den Rücken ihr zugewendet, die beiden am Altar vor dem Prediger.

„Ach, bleib’ mit deiner Gnade“ – brauste es hinter ihr, und Aennes Hände falteten sich auf der Brüstung, ihr Kopf hob sich, ihr Herzpochen ließ nach, aber ein paar große Tropfen rannen wie erlösend über ihre Wangen. Unter den Worten des Geistlichen wich das bittere, wehe Gefühl mehr und mehr, nur der Schmerz blieb, ein großer, stiller Schmerz um ihr verlornes Glück.

Endlich wurden die Ringe gewechselt, und das war der Augenblick, wo Aenne zu singen hatte. Leise begann die Orgel mit dem Chorgesang, und just in dem Augenblick, wo Heinz den funkelnden Ring an seinem Finger fühlte, da schwebte eine süße, innige Mädchenstimme durch den hohen Raum, eine Stimme, die ihm das Herz erzittern machte in Wonne und Weh.

„Halleluja! Seine Gnade ist groß!“

Aenne, Aenne sang ihm das Abschiedslied, das Lied der Verzeihung! Die Augen wurden ihm feucht, er biß die Zähne aufeinander, ach, er kannte so jede Modulation der geliebten, herrlichen Stimme, er hörte ihre emporquellenden Thränen heraus, ihr armes, blutendes Herz. – Wenn er nie gewußt hätte, daß sie ihn liebte, jetzt sang sie ihm die Wahrheit in seine Seele. –

Ach, sie hätte es nicht thun dürfen! Was wollte sie, indem sie zu dieser Stunde sich so singend, so groß in sein Denken drängte? Sich rächen für seine Untreue?

„Er segne eure Pfade und führe euch sanft immerdar!“

tönte es in sein Ohr. Ueberirdisch, wie Himmelsgesang klang die Stimme aus der Höhe.

Die Rätin beugte sich plötzlich tief herab auf ihr Gesangbuch und weinte, Tante Emilie sah starr zu dem Mädchen empor; engelhaft hob sich ihre weiße Gestalt dort ab aus dem Halbdunkel.

Nun trat Aenne zurück, der Chor fiel ein, und sie sank auf die kleine Bank neben der Orgel. Niemand achtete auf sie. Als der Segen gesprochen, der letzte Vers des Chorals gesungen war, schlich sie stumm hinunter. Der Wagen, der sie gebracht, fuhr auf den Wink des Portiers vor und in fluchtartiger Eile schlüpfte sie hinein. Zu Hause angelangt, floh sie in ihre Stube und riegelte hinter sich zu – nur niemand sehen, niemand hören!

Eine gute halbe Stunde später kehrten die Ihrigen zurück. Man pochte an ihre Thür, sie solle zu Tische kommen. Nach ein paar Minuten trat sie in die Eßstube, wo Vater, Mutter und Tante bereits saßen. Sie hatte sich umgezogen.

Der Vater, der sonst sehr karg war mit Lob, streckte ihr die Hand entgegen. „Du hast schön gesungen, Aenne,“ lobte er.

Die Mutter, welche die Suppenkelle bereits schwang, nickte ihr zu. „Besser hätt’s die Hochleitner auch nicht gemacht. Der Organist will noch kommen, um sich zu bedanken.“

Aenne sah sie freundlich an. „Das ist mir lieb, daß es euch gefallen hat, denn im Anschluß daran will ich euch um etwas bitten. Nachher,“ rief sie, „eßt doch nur erst, so eilig ist’s nicht!“

„Gelt,“ sagte Frau Rätin, „wieder neue Rosen? – Da wirst du schon ein paar Mark herausrücken müssen, May.“

„Ein paar Mark?“ wiederholte Aenne, und etwas wie Erschrecken überkam sie; sie war doch im Begriff, furchtbar viel zu fordern.

„Warum ißt du denn nicht?“ fragte die Mutter.

„Sei nicht böse, Mama, ich kann nicht!“ bat sie.

„Du siehst ganz aufgeregt aus – gibt’s denn so was Wichtiges?“

„Ja!“ gab sie tonlos zurück.

Die einfache Mahlzeit war bald beendet. „Na, dann schütte dein Herz aus,“ sagte der Medizinalrat freundlich. „Kann ich mit dir zuerst allein sprechen, Papa?“ „Das klingt ja schrecklich geheimnisvoll! Na, da komm’ mit!“ Aenne folgte ihm, holte ihm Cigarrenetui und Spitze und strich das Zündhölzchen an. Als er die ersten Züge that. trat sie vor ihn. Ihre zitternden Finger hatten sich ineinander gewunden, ihre vor Erregung weit geöffneten Augen hefteten sich in die seinen. „Lieber Papa, ich wollte dich bitten – erlaube mir, daß ich mich zur Sängerin ausbilde.

Er sah sie unangenehm überrascht an. „Mein Gott, du singst ja schon ganz nett,“ murmelte er.

„Aber nicht so, wie es nötig wäre, um es berufsmäßig – –?“ „Na, höre – berufsmäßig! Was ist denn das für ein Beruf? – Du hast doch nicht etwa die Idee, zur Bühne gehen zu wollen?“ „Nicht eigentlich, Papa, ich möchte Konzert- und Kirchensängerin werden, und auch Lehrerin, antwortete sie. „Wie kommst du denn darauf?“ „Ich möchte eine Lebensaufgabe, einen Beruf haben, Papa.“ „Gefällt’s dir denn so gar nicht mehr bei uns?“ „Doch, Papa – ach doch! Aber ich bin so überflüssig, ich möchte hinaus, nützen möcht’ ich, leben –“

„Du hast einen so schönen Lebenszweck von dir gestoßen. Sie preßte die Hände gegen die zuckenden Lippen. „Ich konnte nicht,“ flüsterte sie, „gewiß nicht, Papa!“ „Und wie denkst du dir denn das eigentlich? „Ich müßte nach Berlin oder Dresden gehen und studieren „Und woher soll ich das Geld nehmen für dieses teuere Studium?“

In diesem Augenblick trat Frau Rat ein, ihre Blicke flogen von Aenne zu ihrem Manne, sie sah, es ging um etwas Ernstes. „Na, was wird denn hier verhandelt?“ fragte sie, neben ihren Gatten tretend.

Herr Rat räusperte sich. „Aenne will Musik studieren, in Dresden,“ sagte er ruhig.

Frau Rat lachte kurz auf, dann ward sie still unter dem Blick ihres Kindes.

„Ich bin nicht in der Lage, dir das Studium zu ermöglichen,“ fuhr der Medizinalrat fort.

„Aber – Walther studiert doch auch, und Robert –“ wandte Aenne ein.

„Schwatz’ doch nicht solches Blech,“ fuhr die Mutter sie an, „Walther ist ein Junge, und –“

„Und wenn ich nun ebenfalls ein Junge wäre,“ unterbrach das Mädchen, „müßte ich dann auch hier sitzen, thatenlos, ohne Zweck und Ziel? Wäre dann auch nichts für mich da?“

„Du bist aber eben kein Junge, damit beruhige dich!“ rief die Rätin streng. „Sei doch froh, daß du deine Eltern noch hast und nicht hinaus brauchst in die Fremde!“

„Ich soll nichts thun, nichts lernen?“

„Nichts thun? Genug ist zu thun, Kochen, Flicken, Staub wischen, deine Mutter pflegen –“

„Aber Mama, dazu seid ihr schon drei mit dem Mädchen! Es ist ja ein furchtbares Faulenzerleben, zu dem ihr mich verdammt!“

„Die meisten Mädchen leben bis zu ihrer Hochzeit so, du bist auf der Welt zum Nutzen, zur Freude deiner Eltern, und um später die Frau eines braven Mannes zu werden – basta! Nun red’ nicht mehr davon!

„Nützen thu’ ich nichts, und freuen könnt ihr euch doch nur, wenn ich glücklich und froh bin,“ wendete Aenne ein, „und das kann ich nur sein, wenn ich frische, mir zusagende Arbeit habe, und Mama – verheiraten werde ich mich nie!“

Frau Rat öffnete bereits den Mund zu einer neuen gereizten Antwort, der Zorn flackerte ihr rot über das Gesicht, der Rat aber wehrte ihr, indem er ihr leise die Hand auf die Schulter legte. „Kind,“ sagte er, „wir wollen das Gespräch nicht fortsetzen, es wär’ verlorne Müh’ – ich habe die Mittel nicht.“

„Dann muß ich sehen, wie ich allein durchkomme,“ erklärte sie finster, sich zum Gehen wendend.

„Aenne!“ rief die Rätin, außer sich über den Trotz des Mädchens, und hielt sie am Aermel fest, „bist du denn ganz von Gott verlassen? Wer hat dir nur so verrückte Ideen in den Kopf gesetzt?“

Sie machte sich ruhig los, nur einen großen schmerzlichen Blick gönnte sie der erregten Frau. „Laß doch, Mama, ihr könnt oder wollt mich nicht verstehen, ich weiß wirklich nicht, was ich noch hier zu thun hätte.

„Woher soll denn dein Vater das Geld nehmen?“ schrie, ganz außer sich, die Mutter, „hast du denn gar keine Einsicht?“

„Doch! Ich verstehe es – da ich nur ein Mädchen bin, habe ich kein Rechte, etwas zu fordern; hieße ich Kunz oder Hans, so wäre es da,“ antwortete sie. „Ich will mich bemühen, mit dieser hergebrachten Ungerechtigkeit fertig zu werden.“

Sie ging hinaus, setzte sich in der sogenannten „guten Stube“ ans Fenster und lächelte bitter vor sich hin. Die Flittergoldfahne des Tannenbaumes inmitten der Tafel rauschte leise,

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