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soll sich doch nur ja sogleich begraben lassen! Es ist aber mehr als hübsch, es ist auch rührend, und wenn du lieber sagen willst: es ist beschämend, so habe ich auch nichts dagegen. Denn wenn es auch keine Engel sind – na, knurre nur nicht mit den Augen! – sagen wir also: wenn auch höchstens ein halber Engel darunter ist, so haben sie doch wenigstens eines von den Engeln, den guten Willen, den Willen zu lernen, zu helfen, zu sorgen, zu lieben, zu danken – kurzum besser zu werden! Darin sind sie euch über. Ein Dutzend von euch jungen Männern mit all eueren Worten, Plänen, Idealen und was weiß ich sonst noch, und ganz besonders mit euerem berühmten höheren Verstand, hat nicht so viel reinen guten Willen als ein einziges von den Mädchen da unten. Es ist aber mehr als beschämend, es ist heilig! Sieh diese zierliche Menschenblüte,“ sein Auge suchte sein weißes Mädchen, „so anmutig, so leicht und rein, es ist, als hätte sie der liebe Gott am Sonntagnachmittag gebildet, zu seinem Vergnügen. Aber wie teuer ist sie in Wahrheit erkauft! Wie viel Hände wurden müd’, wie viel Nächte waren schlummerlos und wie viel Tage voll Mühe und Not, damit die zarte Pflanze sicher aufwachse, getränkt mit Thränen, umschauert von Sterbeseufzern! Ueber Gräbern wuchs sie empor, welche die Sorge um ihr Gedeihen vielleicht früher grub, als es der Lauf der Natur gewesen wäre. Die sie lehrten, gaben für sie in jahrelangem Mühen ihr Wissen und ihre Arbeit hin, damit ein zarter, eingeborener Trieb den Weg zum Licht nie verfehle; und die sie liebten, gaben ihre eigenen Hoffnungen hin, damit an ihr die Hoffnung nicht zu Schanden werde, damit sie stark werde, dereinst im Lebenssturm zu bleiben, wie sie jetzt im Spiele blüht: rege, hilfreich und freudig! Erinnere dich an das Lied, das ich dir beim Abschied in das Buch deiner fröhlichen Burschenstunden schrieb.

‚Seht das holde Mädchen hier!
Sie entfaltet sich im Spiele;
Eine Welt erblüht in ihr
Zarter, himmlischer Gefühle.
Sie gedeiht im Sonnenschein,
Unsre Kraft in Sturm und Regen;
Heilig soll das Mädchen sein,
Denn wir reifen uns entgegen!‘

Nun komm und laß uns gehen, sie zu begrüßen!“


18.

Droben am Himmel gehen Sonne, Mond und Sterne ihre gemessenen Bahnen, hier drunten auf Erden gehen wir Menschen unseren Freuden und Geschäften nach, in einem krausen Gewimmel, stoßen und stören einander, als wäre die kleine Erde wirklich schon längst zu klein für uns geworden. Seltener, als uns not thut, blicken wir aufwärts zu der wandelnden Welt; seltener noch mag es geschehen, daß einer auch durch die Wolken die Sterne leuchten sieht, wie es dem Doktor Hans Bardolf an seinem letzten irdischen Weihnachten zu teil ward. Aber doch sind wir mit unzähligen goldenen Fädchen an die himmlischen Begleiter geknüpft. Wir messen unser Wirken und Ruhen, unser Schlafen und Wachen nach ihren Bewegungen, und wunderlich ist es, daß wir auch unser Erinnern nach ihrem Winke sinken und steigen lassen. Es sitzt einer, der sonst das Jahr über fröhlich ausschaut, in trüben Gedanken, weil die Sonne wieder einmal denselben Stand erreicht hat, wo sie stand, als sein Herz einen Bund schloß, der längst vermorscht und vergangen ist, und ein mächtiges Volk erwacht an einem Morgen in einem ernsten, heiligen Gefühl des Dankes, nur weil fünfundzwanzig Erdumläufe verflossen sind, seit ihm ein paar Züge mit einer goldenen Schreibfeder nach Kampf und Sieg den Frieden wiedergaben.

Ein ganzes Volk! Denn wenn viele darunter sind, die an solchem Tage nichts Besonderes fühlen, die auch an ihm nur für sich und ihre höchsteigenen Leiden und Freuden Sinn haben, so sollen sie uns die Einheit nicht stören. Sie laufen so mit; und es ist doch die ganze Wiese grün, wenn auch hier und da zwischen den Halmen eine sauere Stelle im Boden ist, wo höchstens ein Unkraut gedeiht oder ein Giftschwämmchen.

Der Geheime Hof- und Edukationsrat Doktor Mohr, Ritter eines fürstlichen Ehrenkreuzes vierter Klasse am grünen Bande, lief auch so mit. Er hatte wahrhaftig genug mit sich selber zu thun. Denn er trug die schwerste Last, die eines Mannes Schultern drücken kann: ein leeres Dasein.

Es hatte eine Zeit gegeben, wo dem Doktor Hans Mohr kein Ziel begehrenswerter erschien, als in Wohlstand und Würden ohne Arbeit, ohne Sorgen für andere von einem Tag in den andern leben zu können. Früher als er hoffte, hatte er dieses Ziel erreicht, vereint, wenn auch nicht immer einig, mit einer gleichgesinnten Gefährtin, war er beherzt drauf losgeschritten, quer durch den Sumpf. Alle unpraktischen Ideale und Grundsätze, die ihn in einer früheren Zeit zu einem munteren armen Teufel und immerhin zulässigen Gliede des Hansebundes machten, hatte er unterwegs eins nach dem andern als lästigen Ballast aus dem Ranzen gepackt und weggeworfen, ohne daß die Leute es merkten – mit derselben Gewandtheit, mit der er früher sein Teil am Einkauf für ein bescheidenes Junggesellenmahl verschämt und versteckt unter dem feinen Röckchen zu tragen wußte. Der Ranzen blieb darum nicht leer. Andere schöne Dinge hatte der Doktor Mohr nach und nach hineingepackt: Wohlweisheit, Biedermannswürde, sogenannte Menschenkenntnis und Andacht zum eigenen Wohlbefinden. Und es war schrecklich, wie schwer diese Dinge drückten, als er nun endlich drüben angelangt war und sich unter lauter Leuten fand, die alle ganz dieselben Güter in ihrem Sack trugen und alle ebenso schwer daran zu tragen hatten. Denn diese Leute, zu deren Orden der Doktor Mohr jetzt gehörte, sind auf einander angewiesen. Sie finden sich schon darum überall zusammen, weil jeder von ihnen den thätigen und sorgenden Menschen über kurz unausstehlich wird.

Der Geheime Edukationsrat Doktor Johannes Mohr vermied es seit einer Reihe von Jahren, die Universitätsstadt wieder zu sehen, in der er einmal so arm und fröhlich gewesen war. Aber man hatte ihm gar zu dringend den Geheimen Medizinalrat Weitzel empfohlen, und so stellte er sich an diesem gesegneten zehnten Mai des Jahres 1896 dem berühmten Kliniker dar. Auch blieb sein Vertrauen nicht unbelohnt: der Geheime Medizinalrat entdeckte bei dem wohlbeleibten Herrn bereitwillig Anzeichen einer möglicherweise vorhandenen Verfettung und entließ ihn mit einer langen Diätvorschrift.

Als der betrübte Patient aus der Villa des Arztes trat, fiel ihm das Festgeläut auf. „Ach Gott, ja, das Friedensjubiläum!“ seufzte er verdrießlich. Was ging ihn das an? Aber plötzlich stieg in ihm die Erinnerung an einen anderen zehnten Mai auf, an dem die Hansebrüder, just ein Jahr nach dem Frankfurter Frieden ihre „Buden“ in dem Hause der „komischen, alten Dame“ bezogen und feierlich den Bund gestiftet hatten. Und die Erinnerung zeitigte in seiner von frischen Todesängsten weichgemachten Seele ein ungewohntes Verlangen, den andern Ueberlebenden des Bundes noch einmal wiederzusehen. Es konnte ja sein, daß auch der sich einsam fühlte und über manches Gebrechen zu klagen hatte, und übrigens war er ja längst ein angesehener Mann, mit dem selbst Frau Beate höflich verkehrt haben würde.

Der Mietskutscher nickte verständnisvoll, als ihm sein Fahrgast die Adresse des Oberbibliothekars Doktor Ritter nannte. Unterwegs, nahe dem Bahnhof, begegnete ihnen ein anderer Wagen, darin saß ein sehr stattliches junges Paar in hellen Reisekleidern. Die junge, schöne Frau hielt einen großen Rosenstrauß in der Hand, und ihre blauen Augen blickten so strahlend und dankbar in die Welt hinaus, als hätte der liebe Gott diesen sonnigen, blühenden Maitag eigens für sie geschaffen. Der Kutscher grüßte die beiden und bekam ein holdseliges Nicken zurück; der Geheime Edukationsrat aber sah gar nicht hin, er las in seiner Diätvorschrift und seufzte.

Er blickte erst auf, als der Wagen um die letzte Ecke bog. Da lag das alte Haus kaum dreißig Schritt vor ihm, bis auf den Anbau ganz wie früher und doch ganz wie verzaubert. Die Außenseite der grauen Gartenmauer war längs der Straße mit Guirlanden bekränzt, vor dem Gartenpförtchen waren Blumen gestreut, und drinnen auf der Wiese, unter den blühenden Kirschbäumen, saß und stand um eine lange Festtafel, scherzend und bankettierend, eine fröhliche Gesellschaft alte und junge Herren, in dunklem Festanzug und in Uniformen, würdige Matronen in Schwarz und schöne, weißarmige Mädchen in lichten, leichten Kleidern, mit Blumen im Haar.

„Halt, Kutscher, halt!“ rief der Geheime Edukationsrat, und nachdem er das heitere Bild lange verwundert betrachtet, fragte er: „Was ist denn da los?“

Der Kutscher sah ihn maßlos erstaunt an „Nanu,“ sagte er, „das wissen Sie nicht? Ich dachte, der Herr gehörte dazu,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_146.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)