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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Hansebrüder.

Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

(Schluß.)

16.

An einem schönen Vormittag im Frühherbst schloß der erste Bibliothekar Doktor Hans Ritter sein Amtspult ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und machte die Abschiedsrunde vom Kabinett seines Chefs bis zum Pult des jüngsten Kollegen und als er, mit den freundlichsten Reisewünschen der sämtlichen Herren ausgestattet, die große steinerne Treppe der Bibliothek herabstieg, leuchtete sein Antlitz fast so selig wie das des Oberprimaners Karl von Seedorf beim letztmaligen Durchschreiten des Schulhofs. Dieser war aus der Klausur hinausgezogen um in der weiten Welt das frische Leben zu finden, und der Doktor Hans Ritter zog aus, um aus der weiten Welt sich das frische Leben in seine Klausur zurückzuführen – zum erstenmal nach zwei Jahren, und natürlich wieder auf bequemen Umwegen.

Waren sie ihm wirklich so lang und schwer geworden diese zwei Jahre? Die Leute schienen nichts davon zu merken. Aeltere Bekannte, die ihn nach längerer Abwesenheit wiedersahen wünschten ihm mit ungeheuchelter Ueberzeugung Glück zu seinem Aussehen, und seine tägliche Umgebung, die gute Luise, Kollegen, Freunde und Schülerinnen, meinten, daß er immer munterer und zufriedener werde. Der Doktor Hans Ritter meinte es selber, und er glaubte auch, die Ursache deutlich vor Augen zu sehen, als er daheim den Koffer gepackt hatte und einen letzten langen Blick auf seinen Schreibtisch warf. Da stand das Bild des weißen Mädchens, und da war das Schubfach, welches ihre Briefe, bibliothekarisch sorgsam geordnet, in langer Reihe barg, Briefe mit deutschen, dänischen, schwedischen, norwegischen Marken, Briefe aus der Anstalt und Briefe aus den Ferien, in die man „eigentlich nur mit bösem Gewissen und auf besonderes Zureden des Paten anderswohin als zu ihm reiste“, um es hinterher doch immer „entzückend“ zu finden, bei den Schulfreundinnen in Kopenhagen, am Wettersee und am Christianiasfjord, an verschiedenen deutschen Orten, und ganz ausnehmend auf der Nordseeinsel, wohin man die Lieblingslehrerin begleitet, mit ihr vier Wochen gebadet, Seehunde festgestellt und natürlich sehr viel vom Paten gesprochen hatte. Konnte man überhaupt von irgend etwas anderem mit irgend jemand lieber sprechen? Am wenigsten mit dem „Vetter Karl“, der sich heuer in den Osterferien – angeblich auf der Durchreise zu botanischen Studien in irgend einem scheußlichen Moorgebiet – vier Tage lang in der Stadt am schiffbaren Busen der Ostsee aufgehalten und bei den Damen im weißen Hause einen sehr günstigen Eindruck hinterlassen hatte. Stattlich, mit gebräunten Wangen und einem „richtigen“ Schnurrbart in Chokoladebraun, spazierte er durch ein paar Briefe Gretes aus jenen Tagen, um dann wieder in seiner Welt zu verschwinden Es war in diesen Briefen eine merkwürdige Entwicklung, ein Ausknospen und Blühen, welches der Gärtner in der Ferne mit glückseliger Aufmerksamkeit verfolgte. Anfänglich herrschte in ihnen noch der reine Ton der Kindheit, die von großen Dingen unbefangen plaudert und dann wieder um eine rührende Kleinigkeit himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt herumschwärmt. Dieser Ton verklang nicht, aber allmählich mischten sich andere Noten ein, erste schüchterne Frühlingsrufe eines neuen, jungfräulichen Seelenlebens. Aber auch von so viel dunklen Rätseln zog sich leise der Vorhang weg. Oft und öfter wurde das fließende Plaudern unterbrochen von stammelnden Fragen. Es war dann, als ob sich die junge Seele in diese Briefe wie in ein eigenes Heiligtum zurückziehen, um vor der Weisheit Eines, dem sie mit ihrem ganzen Verlangen angehörte, all ihre neuen Fragen und Gedanken niederzulegen.

Fräulein Martha Weber hätte vielleicht solche Stellen nicht mit ungeteilter Freude gelesen denn sie würden ihr gezeigt haben, daß sie als wohlgeschulte Pädagogin recht gehabt, das „liebe kleine Mädchen“ einem allzu mächtigen Einflusse zu entziehen, aber zugleich, daß sie das richtige Mittel diesmal nur halb gefunden hatte. Sie hätte auch den briefliche Verkehr zwischen den beiden durchschneiden müssen, und vielleicht würde auch das nichts geholfen habe. Aber der Doktor Hans Ritter gehörte nicht zu denen, die sich ein kleines Weihrauchopfer damit verschaffen, daß sie vertraute und ehrende Briefe Dritten zu lesen geben und am wenigsten hätte er gerade Fräulein Martha Weber einen Einblick in Gretes Bekenntnisse gestattet. Es kam ihm manchmal vor, als ob sein freundschaftliches Verhältnis zu dieser Dame gleichsam auf einem Träger beruhe, dessen Metall nicht durchweg gleich legiert sei auf seiner Seite nur das solide Eisen persönlicher Achtung mit einem ehrlichen Zuschuß Dankbarkeit, auf der ihrigen noch ein wenig von einem fremden Bestandteil, dessen Art und Namen sich schwer erkennen ließ. Fräulein Martha würde es vielleicht für „geistiges“ Interesse an einer eigenartigen Künstlernatur erklärt haben ‚Hans Ritter’ war so bescheiden, es mit dem Wohlwollen einer umsichtigen Tante für einen erwachsenen Neffen zu vergleichen. Vielleicht war es noch etwas anderes, jedenfalls war es da, und Hans Ritter empfand es im geheimen um so öfter, je mehr sich ihm in Gretes Briefen die morgenreine, noch von keiner Sonnenglut und Wetterschwüle versehrte Blume einer jungen Mädchenseele erschloß.

Er öffnete das Schubfach und überblickte die lange Reihe noch einmal, zog den ersten und letzten heraus und verglich die Schriftzüge der Adresse. Hier die ganz schulmäßige, steife und unpersönliche Kinderhand, dort die zierliche, leichte und doch deutliche Schrift, die fast ein wenig absichtlich seiner eigenen angenähert schien. Dann, während er die beiden Briefe wieder einordnete, streifte sein Blick eine andere, sehr viel dünnere Reihe, die daneben lag, mit großen, weit ausgeschwungenen Schriftzügen – Kurts Briefe; „sie vertragen sich ganz friedlich,“ sagte er vergnügt lächelnd, „und sind so verschieden!“ Knapp und sachlich erzählten sie von Erlebnissen – „daß ich auf der Reise auch Grete aufsuchte und einige Tage dort in der Stadt verweilte, weißt du wohl schon. Grete sieht sehr wohl aus, die Damen waren ungemein freundlich. Ausführlicher wurde über Studien, Lehrer, Bücher, künstlerische und wissenschaftliche Interessen, auch über Dinge aus der studentischen Welt berichtet, am wenigsten über Empfindungen und Herzenskämpfe.“

Er verschloß die Briefe und machte sich reisefertig.

Auf dem Bahnhof begegnete er Frau Geheimrat Hermann, die ihren gelehrten Gatten in die Ferien nach einer schöngelegenen süddeutschen Universität geleitete; der Herr Geheimrat wollte dort Handschriften vergleichen und seine stärkere Hälfte wollte sich auch auf ihre Weise erholen. Sehr gewinnend begrüßte sie den Doktor Hans Ritter; er galt nun längst auch an der Gesellschaftsbörse dieser Dame und ihrer Kreise für „in jedem Betracht“ gut.

„Ei“, sagte sie, „Sie wollen auch auf Reise gehen? Man sollte nicht glauben daß Sie eine Erholung brauchen, Sie sehen ja so schmuck aus wie ein Bräutigam.“

„Ja“, erwiderte Hans Ritter vergnügt, „ich hole mein Mündel aus dem Pensionat ab, sie ist jetzt sechzehn Jahr alt.“

Die Frau Geheimrat lächelte merkwürdig verständnisvoll. „Ach, das ist ja aber reizend,“ lispelte sie.

Jetzt kam auch der Geheimrat zu Wort Er nannte sein Reiseziel und bemerkte weiter. „Vielleicht werden wir ja auch Ihren früheren Zögling, den jungen Herrn von Seedorf, dort treffen? Sie sagten mir doch neulich, daß er auch einen Teil der Ferien dort bleiben werde. Ein hoffnungsvoller junger Mann; mein alter Freund Stubinger, bei dem er dort hört, hat mir erst dieser Tage Gutes von ihm geschrieben.

„Ach ja“, fiel die Gattin ein, „ein reizender junger Mensch! Unsere Elise, unsere Aelteste, die jetzt nach Pfingsten ein paar Wochen bei Stubingers zu Besuch war, schwärmte ordentlich für ihn. Wie so junge Mädchen eben sind! Nun, gewiß werden wir ihm viele Grüße von Ihnen bestellen!“

Hans Ritter verbeugte sich dankend und überrascht, es wäre ihm wirklich nicht eingefallen, ihr diese Grüße aufzutragen. Als er endlich in seinem Coupé saß, seufzte er erleichtert. „Es giebt gewisse Leute, denen ein Jäger nicht gern bei der Ausfahrt begegnet,“ dachte er höchst respektlos. „Aber ich bin ja kein Jäger, und diese Reise soll mir kein übles Vorzeichen verderben können.“ Dann zündete er seine Cigarre an, lehnte sich zurück, dachte an sein weißes Mädchen und berechnete die Stunde bis zu dem nächsten frohen Morgen, wo er sie in dem weißen Hause am

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