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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Fritz lachte, brummte etwas von „unberechenbar“ und verschwand aus dem Zimmer. Dann öffnete er die Thür wieder, um in Hut und Ueberzieher Adieu zu sagen. Ich hörte ihn die Flurthür hinter sich zuziehen und die Treppe hinuntergehen.

Gleich darauf räusperte sich unten auf der Straße dicht unter dem Fenster etwas, es war merkwürdig gut zu hören, obschon wir im zweiten Stock wohnten. Ich öffnete das Fenster ein wenig und nickte hinaus.

„Sehr gut, Fritz! Vollständig laut genug! Dann machte ich das Fenster wieder zu und setzte mich an mein Zeichenbrett zurück, um die letzten hellen Minuten des trüben Februartages noch auszunutzen.

Mein Bruder Friedel und ich, wir waren immer prächtig miteinander ausgekommen. Er war nur ein Jahr älter als ich, und da wir Frauenzimmer ja bekanntlich das zweifelhafte Glück haben, früher für erwachsen zu gelten als gleichaltrige männliche Wesen, so hatte mir das immer ein gewisses Uebergewicht über ihn verliehen, während ich doch zugleich seiner entschieden größeren Begabung mich willig unterordnete. Es stand felsenfest bei mir, daß einmal etwas ganz Großes aus ihm werden würde, und im Grunde meines Herzens war ich viel stolzer auf ihn, als er ahnte.

Augenblicklich freilich stand er nicht gerade in einer sehr liebenswürdigen Entwicklungsperiode, in derjenigen nämlich, wo jede Anspielung darauf, daß er weniger als fünfzig Jahre zählte, von ihm für eine tödliche Beleidigung angesehen wurde, eine Auffassung, für welche Mutter, die in ihm immer noch ihren „großen Jungen“ sah, leider ein beklagenswert geringes Verständnis zeigte, was mitunter beiderseits verstimmte.

Als Mutter mit uns nach Dresden zog, hatte sie es sich durchaus nicht so gedacht, daß Fritz seine eigenen Wege gehen sollte – keineswegs! nicht im mindesten!

Heute jedoch war er uns nun einmal entronnen. Mutter fand das Zugeständnis, er dürfe bis elf Uhr fortbleiben, eigentlich ein wenig gewagt, und als ich nach dem Abendessen den Tisch abgeräumt hatte, setzte sie sich mit der offenbaren Absicht in ihrem Lehnstuhl zurecht, ihren schwärmenden Aeltesten zu erwarten.

Kurz nach Zehn lehnte sie sich ein wenig zurück, um die Augen einen Augenblick zuzumachen, wie sie sagte. Sie schlief nicht – bewahre! Mutter schlief nie, unter keinen Bedingungen und Umständen, wenn sie nicht in ihrem Bette lag – nie! Mit ihren fünfundvierzig Jahren hätte sie sich ja schämen müssen, auf einem Stuhl einzuschlafen! Nein, sie saß nun, wie gesagt, und machte die Augen ein bißchen zu; aber als plötzlich unsere Wanduhr mit zwei lauten, hellen Schlägen halb Elf angab, da fuhr sie doch in die Höhe, als wären die Augen recht fest „zu“gewesen.

Sie wickelte ihr Strickzeug zusammen und sagte, sich erhebend. „Er wird ja nun gleich kommen, Milly. Eigentlich ist es ja Unsinn, daß wir beide aufbleiben. Ich schließe also die Flurthür ab und gehe in mein Zimmer; ich habe da noch allerlei zu thun. Natürlich schlafe ich nicht, bis er im Hause ist. Kommt er, so gehe recht leise hinunter und schließe auf!“

„Ach, Mütterchen, in den anderen Etagen sind sie gewiß alle noch wach, gar so leise brauche ich wohl nicht zu sein; bleiben will ich aber gern, ich bin noch kein bißchen müde.“

Wir sagten aus darauf Gute Nacht und Mutter ging fort.

„Der kommt sobald noch nicht,“ dachte ich, als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, „auf halb Zwölf muß ich wohl gefaßt sein. Gut, daß Mutter jedenfalls schon in fünf Minuten fest schläft!“ Und damit schüttete ich noch ein paar Schaufeln voll Kohlen in den Ofen, holte mir ein interessantes Buch, kauerte mich in Mutters Lehnstuhl zusammen und rückte die Lampe nahe zu mir heran.

Das Buch war wirklich sehr spannend. Mit der ganzen brennenden Lesegier meiner achtzehn Jahre schlug ich Blatt um Blatt um – viele Blätter nacheinander, in fast atemloser Spannung, „ob sie sich kriegen würden“. Einmal schien es so, dann zerschlug und verwickelte sich alles, nun wieder schien sich die Sache zu klären – ach, und nun war ich bis zum letzten Kapitel gekommen, den ganzen Band hatte ich durchrast bis auf dieses eine Schlußkapitel.

„Wenn bloß jetzt Fritz nicht kommt,“ dachte ich, das Buch mit einem tiefen Atemzuge einen Augenblick zurückschiebend und mit heißen Augen um mich sehend. „Gott, wie spät ist es denn? Er muß ja nun wirklich gleich da sein.“ Und ich sah auf das Zifferblatt der Uhr.

„Zwanzig Minuten nach Zwölf! Unmöglich! Und er ist noch nicht da?“ Ein gräßlicher Gedanke kam mir. Wie, wenn er nun dagewesen war und sich unten geräuspert hatte, ohne daß ich in meinem Leseeifer es hörte? Wenn er etwa jetzt unter dem Fenster auf der Straße stand und auf mich wartete? Es war so bitter kalt.

Ich eilte ans Fenster, öffnete es leise ein wenig und blickte hinaus. Nein, nichts. Die Straßenbeleuchtung war nicht gerade brillant, aber doch durchaus hell genug, daß ich eine untenstehende Gestalt hätte bemerken müssen. Nichts – gar nichts! Seine Uhr war wohl eben stark unberechenbar.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück und machte mich an das letzte Kapitel. Aber ich hatte keine rechte Ruhe dabei, sondern horchte zwischen dem Lesen immer nach der Straße hin, ob ich nicht ein Räuspern vernähme. Doch alles blieb still.

Ich klappte mein Buch zu – sie hatten sich „gekriegt“ – reckte mich und gähnte.

„Dreiviertel auf Eins! – ach, mich dünkt, er könnte nun wohl kommen! Dies artet wirklich schon mehr in Rücksichtslosigkeit aus. – Zehn Minuten vor Eins! Das ist ja unausstehlich! Bin ich denn dazu da, die ganze Nacht seinetwegen aufzubleiben? Fünf Minuten vor Eins! So, wenn er jetzt nicht bald kommt, gehe ich zu Bett, da mag er dann sehen, wo er bleibt!“ dachte ich erbittert.

Eins! – nein, geradezu mich ins Bett zu verfügen, das ging doch wohl nicht, das brachte ich nicht über mein liebevolles Schwestergemüt, aber meine Vorbereitungen treffen, das konnte ich ja immerhin. Da mein Schlafkämmerchen an das Wohnzimmer stieß, machte das gar keine Schwierigkeiten. Die Haare wenigstens

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_125.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2023)