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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Verzeihung – schriftlich! Das wäre noch schöner, drei Wochen vor der Hochzeit jemand den Stuhl vor die Thür zu setzen! Das kann sich kein Dienstmädchen erlauben – du – meine Tochter erst recht nicht! In fünf Minuten bist du unten, liebes Kind, und schreibst – verstanden?

Aber ihr Einschüchterungsversuch mißlang kläglich, denn Aennes ganzer verzweifelter Trotz stemmte sich gegen diese Vergewaltigung.

„Nein“, sagte sie kurz, „du hast kein Recht, mich zu zwingen.“

„Kein Recht?“ stammelte die Mutter atemlos. „Ich will dir etwas sagen, du liebloses, unkindliches Geschöpf, du: Wenn ich keine Rechte habe, habe ich auch keine Pflichten mehr gegen dich – verstanden?“

Die Hand der maßlos erbitterten Frau hatte sich auf die Schulter ihres Kindes gelegt und krampfte sich fest wie Eisen. „Ich sage dir, wenn du darauf bestehst, den Mann vor den Kopf zu stoßen, dich um diese anständige Versorgung zu bringen, so sieh auch zu, wie du ohne deine Mutter fertig wirst! Zwischen uns beiden ist’s aus. Das merke dir!“

„Ja, ich verstehe – ich werde gehen.“

„Zu Günther?“

„Niemals! Das kann ich nicht“. Aenne war aufgestanden, hatte ein Tuch vom nächsten Stuhl gerafft und sich der Thür genähert. „Wohin?“

„Das ist ja gleichgültig – nur fort!“ stieß das Mädchen hervor.

Die Rätin stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Thür, ihr ward angst vor dem entschlossenen Aussehen der Tochter. Aus ihren Drohungen verfiel sie in weinerliche Anklagen. „Also das ist der Dank für alle meine Treue und Liebe seit neunzehn Jahren, daß du deinem Vaterhause entlaufen willst wie eine Tolle, wenn dir nicht gleich der Wille geschieht, wenn man dir zuredet zum Guten, dich ermahnt, deine Pflicht zu thun, die du freiwillig auf dich genommen hattest? Denkst du, man spielt ungestraft mit solch heiligen Versprechungen? Aber gut, mein Kind, setze deinen Willen durch, die Strafe wird nicht ausbleiben! Und wenn du später hier herumhockst im Hause, ein altes verbittertes Mädchen, das überall sich zurückgesetzt fühlt, das keine rechten Pflichten hat, kein rechtes Interesse, womit es sein Leben auszufüllen vermag, dann wird die Reue schon komme! Und wenn nicht eher – dann, wenn sie deinen Vater und mich hinausgetragen haben und du in der Welt einsam stehst und vergessen, dann, ja dann wirst du denken – hätt’ ich doch, o hätt’ ich doch – –“

„Aber, Schwägerin,“ sagte da eine sanfte Stimme, „wie kannst du nur! Herrgott, ’s ist doch besser, sie tritt zurück, wenn sie fühlt, daß es nicht geht, als daß sie sich und ihn unglücklich macht! Tante Emilie war eingetreten, und ihre guten angstvollen Augen suchten das Mädchen, das noch in ihrem eilig übergeworfenen Tuche dastand, die verstörten Augen auf die Mutter geheftet.

„Du hast gerade noch gefehlt!“ murmelte diese. Das Mädchen duldete es still und starr, daß die alte gutmütige Frau sie in die Arme nahm und ihr tröstende gute Worte zuflüsterte. Die Rätin aber verließ das Zimmer, sie hatte die Schlacht verloren, jetzt mußte sie an einen möglichst ehrenvollen Rückzug denken. Und nachdem sie an ihres Mannes Schulter sich ausgeweint, verfügte sie sich mit mühsam erkämpfter Fassung in die Küche und erzählte zunächst dem verwunderten Dienstmädchen, daß Fräulein Aennes Hochzeit vorläufig noch aufgeschoben sei, weil – den Grund blieb sie schuldig. In der Nähstube lohnte sie die Mamsell Scheurig, die Näherin, ab, nach Weihnacht werde sie ihr sagen lassen, wann sie wieder kommen solle, und am späten Abend noch wirtschaftete sie in der Leinenkammer umher, bis auch das letzte Stückchen der Ausstattung in Truhen und Schränken geborgen war. Zum Glück hatte sie die seidenen Kleider für Aenne und sich noch nicht gekauft. In der „guten Stube“ sammelte sie die paar Brautgeschenke in ein Körbchen, Günthers und der Kinder Photographie und dergleichen, und stellte alles beiseite, dann endlich setzte sie sich hin und benachrichtigte ihre Jungen von dem traurigen Begebnis.

Jedem von ihnen schrieb sie. „Und wenn man nur wenigstens wüßte, warum sie ihn nicht mehr will. Vater und ich stehen vor einem Rätsel. Sie sagt: „Ich kann nicht!“ und damit ist sie fertig. Vater hat sie eben zu sehr verzogen und Tante Emilie erst recht mit ihrer sentimentalen Gefühlsduselei. So werdet ihr ein recht verstimmtes Haus finden, wenn ihr kommt, mich hat’s arg mitgenommen und Papa auch, der läßt sich’s nur nicht merken. Der Herzogin muß er’s auch mitteilen, es ist das furchtbar, fatal.“ – – – – – – – – – –

Ja, als ob ein Toter im Hause weilte, so war’s am andern Tage. Das Rasseln der Nähmaschine war verstummt, die Oberförsterskinder, die sonst in aller Morgenfrühe schon angelaufen kamen, um Großmama May „Guten Morgen!“ zu sagen, blieben aus, und auf dem Kaffeetisch stand der Weihnachtsstollen unberührt.

Aenne lag matt und fiebernd auf dem Bette. Der Vater kam herauf, und als er das liebe kindliche Gesicht so verändert sah, strich er ihr leise über die Wangen. „Kind, Kind, wozu das alles? Was hast du dir dabei gedacht, als du dem Manne dein Jawort gabst?“

Eine heiße Röte überflackerte sie einen Augenblick, aber sie schwieg.

„Und was soll ich Durchlaucht als Grund angeben?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht, Papa!“

Er ging kopfschüttelnd. „Wenn du kannst, nimm dich zusammen und steh’ auf,“ rief er noch zurück. „Mutter wird dir nichts mehr sagen – sie hat sich drein geschickt.“

Aenne kam auch richtig zum Mittagessen. Tante Emilie drückte ihr verstohlen die Hand unter dem Tischtuch. Der Rat schien zerstreut; der Mutter Heftigkeit war einer resignierten Miene gewichen, jede Bewegung drückte aus: ja, was soll man thun, man muß sein Kreuz eben tragen! „Und Durchlaucht,“ fragte sie endlich in die Stille hinein, während sie das Rindfleisch zerschnitt, „was hat denn Durchlaucht gesagt zu der Geschichte?“

„Sie war sehr teilnahmsvoll, gütig wie immer,“ erwiderte der Rat, „meinte, sie habe sich damals eigentlich recht gewundert über die Verlobung. Es sei gewiß jetzt eine schwere Zeit für das junge Mädchen, und ob wir sie nicht eine Zeit lang auf Reisen schicken wollten.“

„Du Grundgütiger – auf Reisen!“ wiederholte die Frau Rat, der die Thränen abermals in die Augen schossen.

„Ich antwortete ihr auch. Durchlaucht, in der Lage, meine Tochter auf Reisen zu schicken, bin ich nicht. Bedenken Durchlaucht, daß ich zwei Söhne habe! Sie muß es auch hier überwinden können.“ – Dann meinte Durchlaucht, es sei doch fatal, daß Günther so in der Nähe, aber der Herzog werde ihn schwerlich versetzen wollen und zuletzt fügte sie noch den Wunsch hinzu, daß Aenne dereinst ein anderes Glück finden möge – das richtige. Wie gesagt, sie war gnädig wie immer. Mir that es wohl, mich auszusprechen, aber daß die Ribbeneck dabei saß, das störte mich – sie machte ihr albernstes Gesicht dazu!“

Aenne zuckte ein wenig. So! Wenn’s die Ribbeneck wußte, dann hatte auch er es bereits erfahren, und was würde nun folgen? Sie legte Messer und Gabel hin, sie konnte keinen Bissen hinunterbringen.

Nachmittags kam ganz zufällig die Frau Oberamtmann Meyer von der Domäne – als Klatschbase bekannt und gefürchtet im ganzen Städtchen. Frau Rat erblaßte, als das Dienstmädchen ihr diesen Besuch meldete.

„Hast du gesagt, daß ich zu Hause bin?“ fuhr sie das verblüffte Wesen an.

„Ja, Frau Rätin – – sollte ich nicht?“

Stöhnend erhob sie sich aus dem Lehnsessel hinter dem Ofen der Eßstube, an dessen Lehne sie ihren schmerzenden Kopf gepreßt hatte. „Nun geht’s los“, sagte sie zu Tante Emilie, „der läßt es keine Ruhe, bevor sie nicht alles weiß, man möchte sich doch am liebsten verkriechen! Die Geschichte überlebe ich nicht! Mit dieser wiederholte Prophezeiung verfügte sie sich in die „gute Stube“.

Die Frau Hofprediger und die Frau Kaufmann Kruse kamen ebenfalls noch kurz hintereinander, wie das Dienstmädchen Aenne und der Tante Emilie berichtete.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_118.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)