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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Washington, vom virginischen Ufer aus gesehen.

von seiten der Staaten Maryland und Virginien insofern thätige Unterstützung, als dieselben freiwillig eine 100 englische Quadratmeilen umfassende Strecke Landes kostenlos zur Verfügung stellten, damit der Bundeskongreß daselbst eine Stadt baue, die fortan als der von den Einzelstaaten unabhängige Sitz der Bundesregierung betrachtet werden solle. Die Ehre, den Platz auszusuchen, übertrug man dem Präsidenten George Washington, der sich für eine an der Mündung des Anacostia in den Potomacfluß gelegene Stelle entschied, die im Jahre 1791 unter dem Namen „Territory of Columbia“ abgegrenzt wurde.

Es galt nun, den Plan zu der Bundeshauptstadt zu entwerfen. Mit dieser Arbeit wurde ein im Regierungsdienst befindlicher französischer Ingenieur Namens L’Enfant beauftragt. Das schon damals in Amerika immer mehr zur Annahme kommende, von den Spaniern den aztekischen und altperuanischen Städteanlagen entlehnte System, die Städte in Form eines Schachbrettes anzulegen, hatte sich zu sehr bewährt, als daß L’Enfant davon hätte abstehen dürfen. Indem er die rechtwinklig einander durchschneidenden Straßen und die gleichmäßig großen Häuservierecke dieses Systems beibehielt, verband der Franzose damit aber das bei den Parkanlagen seiner Heimat, in Versailles und dem Bois de Boulogne, angewendete System, verschiedene Stellen zu Ausgangspunkten breiter, nach allen Richtungen der Windrose ausstrahlender Alleen oder Avenuen zu machen, welche die rechtwinklige Anordnung des Stadtplans durchschneiden. Solche Centren wurden vor allem diejenigen Stellen, wo das dem Kongreß zum Versammlungsort dienende „Kapitol“ und das dem Präsidenten der Regierung zum Wohnsitz dienende „Executive Mansion“ ausgeführt werden sollten. Andere Centren sind von öffentlichen Parks umgeben. Vom Kapitol strahlen zehn, vom Hause des Präsidenten sieben breite Avenuen aus und führen nach den anderen Centren hin, so daß auch die letzteren als Ausgangspunkte derselben angesehen werden können. Alle Avenuen eröffnen reizende Fernblicke auf das Kapitol, das Haus des Präsidenten oder auf prächtige Reiterstatuen, die aus schöngepflegten Anlagen emporragen.

Leider ward der großartigste Teil des von L’Enfant entworfenen Planes nicht in der von ihm gewünschten Weise durchgeführt. Es hatte in seiner Absicht gelegen, vom Kapital aus eine 130 m breite Triumphallee nach dem 1½ km entfernten Potomacfluß zu führen, wo auf einem Hügel ein mächtiges Reiterstandbild des Präsidenten Washington errichtet werden sollte. Zu beiden Seiten der Allee waren 300 m breite Parkanlagen gedacht, in deren Hintergrund die von der Regierung zu bauenden Ministerialgebäude zu stehen kommen sollten. Gewaltige Kaskaden, kleine Seen und Bildsäulen berühmter Männer sollten über den Park gleichmäßig verteilt werden. Hätte man diesen Plan, der von den Nachfolgern des Franzosen leider nicht verstanden wurde, durchgeführt, so würde Washington eine Sehenswürdigkeit erhalten haben, wie sie großartiger und eindrucksvoller keine Residenz der Welt bietet.

Aber auch trotz des Fortfalles dieser Triumphallee ist Washington eine der schönsten Städte der Welt geworden. Dazu trug vor allem der Umstand bei, daß L’Enfant sämtliche Straßen in einer nicht bloß den Verhältnissen seiner Zeit, sondern den Bedürfnissen späterer Geschlechter entsprechenden Breite angelegt hatte. Beträgt doch die Durchschnittsbreite der Straßen 30, die der Avenuen hingegen 50 m. Dabei besitzen die fast durchweg mit Asphalt belegten Straßen 3 bis 5 m in breite Fußstege und zwischen diesen und den fast stets nur für eine Familie berechneten Häusern mehr oder minder breite Rasenplätze und Gartenanlagen. Sämtliche Straßen mit Ausschluß natürlich der Geschäftsstraßen haben doppelte Reihen von Schattenbäumen, die Avenuen hingegen, wie z.B. die 7 km lange Massachusetts Avenue, haben gar vierfache Reihen von Linden, Platanen, Sykamoren, Kastanien und anderen Baumarten. In wie reichem Maße dieser Baumschmuck zur Anwendung gekommen ist, ergiebt sich aus dem Umstand, daß Washington gegenwärtig zwischen 75- und 100 000 Schattenbäume besitzt, die besonders im Frühling dem Stadtbild einen überaus lieblichen Anblick verleihen. Auch jene stumpfen Ecken und spitzen Winkel, die dort entstanden, wo die Avenuen die Straßen durchschneiden, haben ziergärtnerischen Schmuck, welcher phantastischen Blumenvasen, Springbrunnen oder Bildsäulen zur Folie dient.

Sein eigenartiges Gepräge erhält Washington aber doch erst durch die zahlreichen großartigen Regierungspaläste, die hauptsächlich über den westlich vom Kapitol gelegenen Stadtteil verstreut sind. Der Bau der meisten dieser eindrucksvollen Gebäude fällt in das letzte Jahrzehnt des vorigen und den Anfang dieses Jahrhunderts, wo eine große Vorliebe für altgriechische und altrömische Architektur, Dichtung und Tracht sowohl Europa wie Amerika beherrschte. Diese Vorliebe war beim Präsidenten Washington besonders stark ausgeprägt, und seinem Einfluß dürfte es hauptsächlich zuzuschreiben sein, daß alle damals aufgeführten Regierungsgebäude in streng klassischem Stil errichtet wurden. Thatsächlich haben in verschiedenen dieser Paläste die herrlichsten Tempelbauten Altgriechenlands ihre Auferstehung gefeiert. So ist beispielsweise das Gebäude des Ministeriums des Innern eine getreue Wiederholung des Parthenon, das Gebäude der Generalpostverwaltung ist eine Kopie des Theseustempels, das Schatzamt die des Minervatempels. Auch das städtische Rathaus, ferner das vom Präsidenten bewohnte „Weiße Haus“ sind im klassischen Stil gehalten, so daß ein begeisterter Reiseführer mit Recht behaupten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_109.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)