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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

besser, und übrigens hatte sie als Urgroßmutter schon ein gewisses Recht, unpädagogisch zu handeln.

Weit schlimmer stand es für den Doktor Hans Ritter. Seine Sache wäre es gewesen, durch eine zielbewußte und methodische Einwirkung im Sinne einer aufgeklärten Moral den etwaigen üblen Einfluß der alten Frau rechtzeitig unschädlich zu machen. Er versäumte diese Pflicht leider nur zu sehr. In einem Alter, wo gebildete Kinder sich schon beinahe genieren, noch ans Christkindchen zu glauben, vermochte sich Grete nur schwer von der Vorstellung zu trennen, daß jeden Abend ein oder sogar mehrere Engel an den Fenstern vorbeiflögen und hineinguckten, um zu sehen, ob die Kinder auch artig sind und hübsch schlafen; und sie stattete das angenehme Bild dieser himmlischen Ronde noch aus Eigenem mit einer Menge von Zügen aus, die für jeden vernünftig und klar denkenden Menschen deutlich bewiesen, wie nachlässig der Doktor Hans Ritter in der Bekämpfung der leider ja so sehr üppigen kindlichen Einbildungskraft gewesen war.

Er wußte wirklich sehr wenig vom methodischen Erziehen. Dagegen sorgte er dafür, daß sein weißes Mädchen frühzeitig und reichlich das große Glück auch ausnutzte, welches sie vor so vielen Kindern großstädtischen Reichtums voraus hatte: an einem Orte zu, leben, wo ihr eine schöne, wechselvolle und gesegnete Landschaft bis in die Fenster schaute. Er war immer darauf bedacht, die jedem Menschen eingeborene Teilnahme an allem Belebten in der Natur in ihr unverkümmert und rein zu entwickeln; denn er war überzeugt, daß von dieser herzlichen Teilnahme alle praktische Religion ausgeht, und daß einem erwachsenen Menschen, der Blumen mutwillig zertritt und Tiere quält, aller kirchliche Eifer nichts nützen kann. Und wie er sie im Buche der Natur allmählich die Ehre Gottes lesen lehrte, so schmückte er ihr die Seiten dieses Buches auch mit den Bildern derer aus, die ihr fürs Leben teuer sein sollten; er erzählte ihr von ihren Eltern auf den Wegen, wo sie vordem gewandelt waren, und ließ sie ihre ersten Sträußchen winden dort, wo einst ihre Mutter Blumen gepflückt hatte. Wenn aber die Kleine mit kindlicher Phantasie das Geschaute und Gehörte weiter spann, wenn sie davon träumte, daß jetzt wohl durch das blaue Fenster im rosigen Abendgewölk die Mama aus dem Himmel herunterguckte auf ihre Gretel, und wenn sie sich fest vornahm, nächstens doch einmal heimlich im Bettchen wach zu bleiben, um die hereinschauenden Engel zu sehen, so wehrte er ihr nicht. Denn er hielt dafür, daß es für ein Kind besser sei, an tausend gute Engel zu glauben als an einen bösen Menschen.

Hans Ritter wußte wohl, daß der Schleier einmal zerreißen und daß einmal die erste Thräne fließen mußte, welche menschliche Lieblosigkeit dem Kindesauge entpreßt, aber so lange es ging, wollte er diesen Augenblick hinausschieben. So hatte er Grete auch bereits zwei Jahre über das übliche Alter aus der Schule gehalten und sich mit dem häuslichen Unterricht zu helfen gesucht, als ihm ein freundlicher Zufall darüber weghalf. Auf einem Spaziergang im Walde waren sie einer Schar spielender Mädchen in verschiedenem Alter begegnet. Gretel hatte sich – zuerst sehr schüchtern – der fröhlichen Schar zugesellt, die sie freundlich aufnahm, während Hans Ritter mit der beaufsichtigenden Dame ins Gespräch kam. Es war ein Fräulein anfangs der vierziger Jahre, mit Namen Martha Weber, das mit seiner betagten Mutter ein großes Pensionat in der Stadt leitete und daneben an der Töchterschule als Lehrerin thätig war. Hans Ritter hatte von ihr schon als einer ebenso kenntnisreichen wie muntern Dame reden gehört, und das Gespräch bestätigte ihm diesen Ruf so sehr, daß er ihr auch seine Besorgnisse für Grete kurz entschlossen offenbarte. „Geben Sie sie immerhin in die Schule,“ sagte Fräulein Weber. „Sie kann selbst von unpassenden Mitschülerinnen nicht so viel Uebles annehmen, daß es den Nachteil einer einsamen Kindheit aufwöge. Und was das Pedantische des heutigen Betriebs in einer großen Schule angeht – es ist etwas daran, das gebe ich zu, aber es kommt doch am Ende alles auf die einzelnen Lehrer und Lehrerinnen an. Da sehen Sie sich unsere Mädchen ’mal an, die meisten davon gehen auch noch zur Schule, und sehen Sie nur, wie munter und unverbildet sie spielen können! Aber wissen Sie etwas: wenn Ihre Kleine so lieb ist, wie es scheint, so lassen Sie sie außer der Schule doch öfters zu uns kommen! Da findet sie Freundinnen, für die ich bürgen kann. Uebrigens wird sie wohl gerade in meine Klasse kommen, bei mir soll sie die roten Bäckchen nicht verlieren.“ Dabei sah sie ihn so überzeugend an, daß er herzlich dankend zusagte. Es erwies sich im weitern Verlauf des Gesprächs, daß die Damen auch manches von ihm gelesen hatten, und was Hans Ritter besonders erfreute, war die Offenherzigkeit, mit der das Fräulein auch einzelnes von ihrem Lobe ausschied. „Das liegt mir nicht,“ sagte sie einfach.

Mit der Zeit wurde die Freundschaft zwischen den beiden Damen und Hans Ritter recht fest. Er freute sich bei jedem Besuche mehr über das Glück, welches seinem einsamen weißen Mädchen den Verkehr mit dem frischen Leben dieses Hauses geboten hatte. Unwillkürlich verglich er das, was er hier sah und hörte, mit jener anderen Anstalt, an welcher einst Emilie Flügge gelitten hatte und nach deren Bilde er – überaus voreilig und ungerecht – sich lange Zeit das Wesen aller derartigen Anstalten vorgestellt hatte. Auch hier konnte man von einem ganz besonderen „Geiste des Hauses“ sprechen; aber es war eben das Gute an ihm, daß man nicht beständig von ihm sprach. Dieser Geist drängte sich nicht wie in dem Hause der Frau Direktor und Beatens dem Besucher auf gleich einem zudringlichen Parfüm, er erfüllte das ganze Haus mit einer wohligen Wärme fröhlicher Regsamkeit und anregender Freude. Die greise „Frau Professor“, welche das ganze Wesen trotz ihres Alters mit ungeschwächter Rüstigkeit leitete, hatte mit der Zeit einen kleinen Stab von gleichgesinnten Gehilfinnen um sich gesammelt; es war erstaunlich, für welche Menge geistiger und künstlerischer Interessen diese Damen Zeit übrig fanden, wie dankbar sie jede Anregung aufnahmen und doch über dem Weiteren nie die Forderung des Tages versäumten. So zeigten sich auch unter den jungen Mädchen, denen großenteils schon ältere Schwestern und Verwandte im Besuche der Anstalt voraufgegangen waren, gemeinsame Züge, welche wirklich fast familienhaft anmuteten und stark genug schienen, selbst eine einzelne widersprechende Natur alsbald in ihren heilsamen Kreis zu bannen. Ein jegliches in diesem Hause, groß und klein, war vergnügt, weil alle bestrebt waren, ihre Pflicht zu thun und einander Freude zu machen; dabei wurde das Wort „Pflicht“ nur sehr selten gebraucht, und wenn es einmal gebraucht wurde, so wirkte es wie ein leiser, wohlbeherzigter Vorwurf.

Es betrübte Hans Ritter, daß er sich für so viel Freundlichkeit, die man seinem weißen Mädchen und ihm hier entgegentrug, nicht erkenntlich machen konnte. Als er diese Empfindung einer der Damen einmal aussprach, meinte sie lächelnd:

„O, Sie könnten unsrer Frau Professor schon einen großen Gefallen thun: wenn Sie nämlich für unsere Aeltesten die Litteraturvorträge übernehmen wollten. Ich weiß, daß Frau Professor es gern sähe; aber sie wollte Sie wohl nicht darum bitten, weil sie immerhin nicht in der Lage ist, ein Honorar zu zahlen, das Sie entschädigte. Wenn man solche schriftstellerischen Honorare bezieht wie Sie –“

Auf diesem Umwege erfuhr nun Hans Ritter auch von dem Sagenkreis, der sich allmählich – er begriff nicht, wie – um seine novellistischen Einnahmen gesponnen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen, die Legende zu zerstören, und man sah es immer noch als einen Beweis freundlichen Entgegenkommens an, daß er die Lehrstunden übernahm. Früher hätte sie „der junge Mann von der neueren Geschichte“ gehabt, den der Professor Isaak Bernstein so sehr liebte; der hatte es aber jetzt nicht mehr nötig, da er zur ordentlichen Professur und zugleich zur Heirat mit einer reichen Erbin gelangt war.

Für Hans Ritter wurden diese Vorträge eine Quelle reiner Freude. Sie befriedigten seine nur mit vielem Kummer unterdrückte Neigung zu selbständigem Lehren, und hatte er sich früher schon über jeden Beweis eifrigen Strebens bei vereinzelten Zuhörern gefreut, so überraschte ihn jetzt die einmütige, treuherzige und dankbare Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen. In diesem Punkte ist das junge weibliche Volk den jungen Herren überhaupt ja weit vorauf; es kam aber noch hinzu, daß sie sich bewußt waren, über Dichter von einem unterrichtet zu werden, der selber das Dichten verstand. Und einem wirklichen, lebendigen Dichter kommen junge Mädchen in diesem Alter, zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, ausnahmslos mit Empfindungen entgegen, die man bei anderen Leuten, zum Beispiel bei Verlegern, nur ganz selten findet.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_099.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)