Seite:Die Gartenlaube (1897) 096.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Ueberhaupt entwickelte und bethätigte dieser Mann von vornherein Erziehungsgrundsätze, die es einer so praktischen Person wie der guten Luise manchmal sehr schwer machten, den Gehorsam als „Pflicht und Trost“ zu empfinden. Es war noch lange nicht das Schlimmste, daß er die Gartenschnecken, die ihm Grete brachte, auf die Mauer setzte, statt sie vor den Augen des Kindes zu zertreten und ihm so möglichst früh beizubringen, daß es für den denkenden Menschen zweierlei Tiere giebt. solche, die man züchtet, weil sie direkten Nutzen bringen, und solche, die das boshafter oder leichtsinnigerweise nicht thun und deshalb umgebracht werden.

Freilich würde dieser Unterricht die kleine Grete einige Thränen gekostet haben, denn sie war einstweilen von einer unbegrenzten Gutmütigkeit gegen alle Welt. Wenn sie mit ihrem Spielball eine von Frau Klämmerleins Kapuzinerblüten getroffen hatte, so streichelte und putzte sie eifrig an der Blume herum, bis es nicht mehr weh that, den „armen Regenwürmern“, die sich so begehrlich aus der Erde heraufschlängelten und doch offenbar Hunger hatten, streute sie Brocken von ihrem Brötchen hin, und vollends unter den Menschen ahnte sie noch nichts Böses. Die Welt der Erwachsenen außerhalb ihres Heims bestand für sie aus lauter Onkeln und Tanten, und wer immer von dieser großen Verwandtschaft durch das Gartenthörchen trat, konnte darauf rechnen, von ihr mit einem Händedruck und einem so treuherzigen „Tag!“ begrüßt zu werden, daß es den größten Menschenfeind für ein Weilchen in einen lachenden Optimisten verwandeln mußte.

Im ersten Jahre war auch der Hauptmann von Seedorf mit seinem Sohne ein paarmal herübergekommen, zuerst in den Osterferien, nachdem der Hauptmann die Pforten seines „Instituts“ für immer geschlossen hatte, und zu Beginn der Herbstferien sogar von der weit abgelegenen Großstadt aus, in welcher die neue, so ungemein aussichtsvolle militärische Zeitschrift erschien. Sie hatten sich beidemal ein paar Wochen in der Stadt aufgehalten, waren fast jeden Tag nach dem Häuschen herausgekommen, die Männer hatten ihre unter so trüben Umständen begonnene Freundschaft angenehm ausgebaut, und der junge Naturforscher Karl hatte sich der kleinen Grete ebenso eifrig gewidmet wie früher. Später beschränkte sich der Verkehr auf einen immer spärlicher werdenden Briefwechsel – der Hauptmann von Seedorf war schwach im Schreiben von Privatbriefen, und er mochte auch aus den mancherlei Orten und Stellungen, aus denen seine jeweiligen kurzen Grüße in buntem Wechsel dauert waren, wenig Erfreuliches zu berichten haben.

Auch der Doktor Hans Mohr fand an einem schönen Tage im Herbstmonat die Klinke des Gartenthörchens wieder, nachdem er sich durch längeres Spähen vergewissert hatte, daß Frau Klämmerlein ausgegangen war, denn er fürchtete sich ein wenig vor der alten Dame, seit er bei einer zufälligen Begegnung, kurz nach seiner Hochzeit, entdeckt hatte, daß sich ihre Schwerhörigkeit fast bis zur völligen Unanredbarkeit verstärkt habe. Uebrigens war er kein Menschenfeind – in Beurteilung dessen, was ihn am meisten kümmerte, nämlich seiner eigenen werten Person, war er sogar Optimist – und somit empfing er den strahlenden Gruß Gretels mit vielem Wohlwollen. Hans Ritter, der eben in den Garten trat, fand ihn mit der Kleinen so gewinnend plaudernd, als ob sie die Tochter eines Geheimen Kommerzienrats wäre.

Viel Worte des Beileids sagte der Doktor Hans Mohr, während er mit Hans Ritter längs den Kapuzinerkressen auf und ab ging. Es erwies sich, daß seine schmerzlichen Empfindungen bei der Nachricht vom Tode ihres gemeinsame Freundes zu lebhaft gewesen waren, als daß ihm irgend ein schriftlicher Ausdruck genug gethan hätte – auch gab ihm ein immerhin neuer und umfangreicher Wirkungskreis so unglaublich viel zu thun, daß er darüber thatsächlich keine Zeit zu Privatbriefen mehr fand! Um so weniger hatte er es versäumen wollen, gelegentlich eines leider nur kurz bemessenen Besuches in der Universitätsstadt einmal anzurufen, zumal er gehört hatte, daß das reizende kleine Mädel jetzt bei der Urgroßmutter sei. Und er fügte hinzu, daß seine Frau und seine Schwiegermutter es ihm ja nicht verzeihen würden, wenn er heimkäme, ohne das Töchterchen der armen Emilie Flügge gesehen zu haben, von der sie so oft und so herzlich sprachen. Es schien, daß er bereit war, noch manches von sich und den Seinen im Austausch gegen anregende und rührende Einzelheiten aus dem Trauerspiel Bardolfs und Emiliens zu berichten, aber Hans Ritter hatte eine so eigentümliche Art, höflich zuzuhören und über dem Zuhören sogar die Einladung zum Sitzen zu vergessen, daß es selbst dem geübten Festredner allmählich die Rede abschnitt. Zuletzt erinnerte sich Hans Mohr, daß er sich leider unmöglich länger aufhalten dürfe.

Ein paar Schritte vor dem Thörchen wandte er sich noch einmal, um einen langen, schwermütigen Blick auf das „alte liebe Häuschen“ zu heften. „Wer wohnt denn jetzt in meinem alten Lübeck?“ fragte er.

„Niemand“, antwortete Hans Ritter. „Ich habe es zugemietet, damit uns kein Fremder mehr ins Haus kommt. Auf Bardolfs Zimmer schläft sein Kind.

„Hm,“ meinte Doktor Hans Mohr, „also zahlst du Frau Klämmerlein jetzt für alle drei Zimmer Miete? Hör’ ’mal, dann mußt du dich aber ja jetzt ganz gut stehen?“

„O ja,“ erwiderte Ritter, „es geht. Wir haben beide unser Auskommen, das Kind und ich auch.“

Doktor Haus Mohr verabschiedete sich und schritt so in tiefen Gedanken hinaus, daß er die zum Abschied ausgestreckte Hand Gretes ganz übersah. Grete blickte ihm nachdenklich nach und sagte bedauernd. „Armer Onkel!“ Denn sie war noch zu klein, um ein Gesicht, wie es der Doktor Mohr machte, für etwas anderes als den Ausdruck bedauernswerter Enttäuschungen zu nehmen. Im Grunde aber hatte sie recht, denn es ist wirklich enttäuschend und ärgerlich für einen Biedermann, wenn er nach längerer Abwägung seiner Menschen- und Familienpflichten schließlich ohne den Segen seiner Frau zur Brandstätte schlendert, um auch einen Eimer Wasser zu reichen, und unterwegs von der zurückkehrenden Feuerwehr hört, daß schon alles gelöscht ist. Der Doktor Hans Mohr empfand sein Mißgeschick. Er sah unzufrieden aus, während er in der Westentasche mit einem Zwanzigmarkstück spielte. Dieses Geldstück hatte er beiseite gesteckt, um es dem Doktor Hans Ritter mit einigen pädagogischen Ratschlägen und dem Bedauern, für jetzt nicht mehr geben zu können, als Beitrag zu Gretes Erziehungskosten zu überreichen. Nun blieb ihm nichts übrig, als sich dafür bei seinem Cigarrenhändler eine Extrasorte zu bestellen, die er sogleich bezahlte. „Verpacken Sie sie, bitte, in ein leeres Kistchen von meiner gewöhnlichen billigen Nummer“, fügte er umsichtig hinzu, denn er war ein aufmerksamer Gatte und dachte auch auf Reisen an seine Frau.

An der Stätte des ehemaligen Hansebundes ließ sich der Doktor Hans Mohr vor der Hand nicht wieder sehen. Nur durch die Presse erfuhr Hans Ritter von seinen nächsten Werken, unter denen eine reich illustrierte „Festgabe zum vierzigjährigen Regierungsjubiläum“ seines durchlauchtigen Denkmalprotektors und ein Band gesammelter Vorträge unter der Aufschrift „Bausteine zum Tempel einer zielbewußten Mädchenerziehung“ noch nicht das Aergste waren. Die kleine Grete fand keine Gelegenheit mehr, dem armen Onkel ihr Beileid auszudrücken.

Zum Glück betraten genug andere Leute den Garten, die den Gruß des weißen Mädchens niemals überhörten. Da waren der Briefträger, der Metzger, die Gemüse- und Milchweiber, da war der alte stelzfüßige Orgelmann, der jeden Donnerstag kam, und da war vor allem der liebe Onkel Professor, der sich weit öfter als jeden Donnerstag einstellte.

Es war merkwürdig, zu sehen, wie gut der Professor Isaak Bernstein mit Frau Margarete Klämmerlein aus- und übereinkam; er war der einzige Mann, dem sie ein allenfalls ausreichendes Verständnis für ihre Erfolge in der Kressenzucht zusprach, und es war von Frühling bis Herbst selten, daß auf seinem Arbeitszimmer mehrere Tage der frische Strauß aus ihrem Garten fehlte, den ihm meist Gretel an der Hand ihres Paten zu bringen pflegte. Ebenso wenig aber fehlte es auf diesem Zimmer jemals an irgend einer angenehmen Ueberraschung für Augen oder Mäulchen des weißen Mädchens. Für Hans Ritter war die Unterhaltung des alten Herrn ein ziemlich auskömmlicher Ersatz sozusagen gelehrten Umgangs und er wußte, daß er auch noch in anderer Hinsicht von Isaak Bernstein sicher auf eine Hilfe rechnen konnte, die er freilich eben darum entschlossen war, nur im äußersten Falle der Not zu erbitten. Aber einen Dienst, von dem er gar nichts wußte, leistete ihm der alte Herr, indem er das arg

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_096.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)