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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Hansebrüder.

Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

(5.Fortsetzung.)

10.

Fünfundzwanzig Monate war Grete alt, als sie völlig zur Waise wurde. Sie fing eben an, von sich in der ersten Person zu sprechen und es kostete viel gute Worte von seiten ihrer Hüterinnen und manchen großen Thränenstrom von ihrer Seite, bis sich dies kleine, kaum erwachte Ich mit dem neuen, dunklen Verlust aussöhnte. Daß die Mama – die wirkliche, nicht die im Bilde – zu den Engeln gereist sei und erst „nächstens“ wieder kommen werde, war ihr schon geläufig, aber sie wollte es nicht einsehen, warum nun ihr Vater der Mama nachreiste; zum wenigsten hätte er sie doch mitnehmen sollen!

Aber nach etlichen Tagen war sie auch darüber getröstet. Vater und Mutter hatten ihr durch den lieben Paten sehr schönes Spielzeug und eine ganz wunderbare Menagerie geschickt, lauter Tiere aus Biskuit, die vor denen im Bilderbuch den großen Vorzug haben, daß man sie zur Belohnung aufessen darf, sobald man gelernt hat, wie sie heißen. Und sehr umsichtig unterstützte das in den Himmel zurückgekehrte Christkindchen die Trostmittel des Paten dadurch, daß es nun doch noch nachträglich einen richtigen Winter mit Eis und Schnee schickte – mit viel Schnee, der sich von den Fenstern des frei im Garten gelegenen Hauses ganz anders ausnahm als aus dem dritten Stock in einer engen, menschenvollen Stadtgasse.

Da gab es Bäume, die aussahen, als wären sie ganz von Zucker, und denen es kaum zuzutrauen war, daß sie „nächstens“ voll von roten Kirschen hingen; da gab es vor allem unzählige Piepvögelchen schwarze, graue und ganz bunte, die im Schnee hüpften und bis an die Fenster flogen. Wenn man sie auf dem freigekehrten Platz vor der Küche lockte. „Piep, piep, piep!“ und dabei Futter streute, so kamen sie herbei und pickten es auf. Und es gab Wagen auf der Straße, die ohne Räder über den Schnee fuhren, ganz schnell, und dazu entzückend „Klingkling“ machten. Ein paarmal wurde man sehr warm eingepackt, daß kaum noch etwas herausguckte als Augen, Näschen und ein paar vorwitzige goldrote Löckchen, dann stieg die Luise in einen solchen Wagen, der Pate hob Gretel hinein und stieg nach, und dann ging es, hui, über den Schnee mit Klingkling und Peitschenknallen, ganz aus der Stadt hinaus, weit, weit, zwischen Bergen, die ganz voll Schnee lagen, und dem großen Wasser, auf welchem ungeheure weiße Tische von Eis trieben und einmal saß sogar auf einem solchen Tisch ein weißer Vogel, den man bisher nur aus dem Bilderbuch kannte, und der Pate freute sich sehr, daß man ihn gleich wiedererkannte und mit seinem Namen rief. „Schwan“. Vor dem Reize solcher Neuheiten mußte jeder Kummer entschwinden.

Und dann war es ja daheim beinahe ganz wie zu Hause! Wenn man abends zu Bett gebracht wurde, saß der Pate vor seinem Schreibtisch auf seinem Zimmer, ganz wie Vater, im Zimmer nebenan, auf dem Tischchen, stand Mamas Bild zwischen grünen Blättern, da stand neben Luisens Bett dasselbe Bettchen, in dem man „immer geschlafen hatte“, und darüber hing der Engel, der einen so lieb ansah und nur den Kopf in einer Art auf die Aermchen legte, wie ein artiges Kind es durchaus nicht soll, aber Engel dürfen so etwas. Und dann noch so viel andere Sachen, die man immer gesehen hatte und die der Vater auch so gern sah, daß er es gewiß nicht lange ohne sie aushalten konnte.

Sie erben von Geschlecht zu Geschlecht, Kleinodien, die ihr Gold von der Erinnerung leihen, was allgemach doch verloren geht, das wird ersetzt durch anderes, das eine neue, alternde oder früh und plötzlich abscheidende Gegenwart für ihre Zukunft wieder hinzufügte. Und wenn wieder ein junges Paar sich gefunden hat und sein Nest einrichtet, so zeigen und erklären sie einander mit weinendem Lächeln und zärtlichem Kosen ein Stück ums andere von dieser Mitgift, die so wunderlich von den neuen, frischgefertigten Sachen absticht, und es ist ihnen, als ob unsichtbare Hände sich segnend über den neuen Bund breiten. Da ist das Nähtischchen, das ihre Mutter mit dem ersten langen Kleid von der Großmutter empfing, an dem sie später in seligem Hoffen und Bangen die winzigen ersten Hemdchen für das Kommende nähte; da ist die Lade, ein zunftgerechtes Meisterstück seines Großvaters, in der seine Mutter ihre armen kleinen Schmucksachen verwahrte, neben dem Brautkranz und dem Gesangbuch, das nun den Ehrenplatz auf ihrem kleinen Bücherstand bekommen soll. Da sind aus der eigenen Kindheit, aus der Jünglings- und Jungfrauenzeit werte Andenken, und sie erzählen einander von dem Freunde, dessen Namen auf dem Prunkseidel steht und der nun begraben liegt auf dem Schlachtfeld im fernen fremden Lande, von der Freundin, welche die Rosen so gern sah und so kunstvoll nachmalte und die der Tod mitten in der Rosenzeit ihrer Brautschaft brach! Und dann wieder noch weiter zurück: da sind Wanderbücher, Schattenrisse und Pastellbildchen aus einer Zeit, die noch nicht davon träumte, mit Dampf durch die ganze Welt zu fahren und mit Sonnenstrahlen zu malen; da ist am ganz verblaßten Seidenbande die alte Guitarre, zu deren schnarrenden Tönen so gefühlvolle Lieder klangen, als der Großvater die Großmutter nahm.

„An Alexis send’ ich dich, er wird, Rose, dich nun pflegen,“

und

„Sieh, Doris, wie vom Mond bestrahlt die Tanne glänzt, wie schön! Von allen Bäumen hab’ im Wald die Tann’ ich mir ersehn!“

Vieles haben die alten Erinnerungs- und Erbstücke erlebt, Herzerfreuendes, Herzzerreißendes, und sie haben es nicht vergessen, es ist, als ob die Zeit ihnen eine Seele gegeben habe, eine Traumseele, die nur in der Nacht aufwacht und spricht. Dann, wenn die Menschen schweigen und das Haus zu sprechen anfängt, dann stimmen sie ein. Auf der Treppe knackt es wie von leisen, verstohlenen Schritten, und vor dem Nähtischchen rauscht es leise, als ob wieder ein Mädchen im leichten Hauskleid auffahre, um dem heimlichen Besucher entgegenzueilen. Zwischen den Vorhängen zittert ein blasser Streifen des Mondlichtes über die alten Bilder, über den verschossenen Goldschnitt des Gesangbuchs, und ein Lufthauch bewegt raschelnd das vergilbte beschriebene Blättchen, das aus dem Buche vorragt. Ist es der Text zu einer Taufpredigt oder zu einer Grabschrift?

Vieles von Wonnen und Leiden, von halbvergessenen und von kaum überstandenen, hatten Bilder und Hausrat in dem ehemaligen Zimmer des Doktors Hans Bardolf zu erzählen, wenn auch das letzte Licht nebenan auf dem Arbeitstisch Hans Ritters erloschen war und im stürmischen Anhauch des Winterwindes das alte Häuschen zu sprechen begann. Viele unsichtbare Gäste waren heimisch in diesem Hause, aber den Schlummer des Kindes störten sie nicht.

Der Schnee verging, und der Frühling kam, ausnahmsweise einmal so, wie ihn die Dichter schildern, mit sonnigen Tagen, rechtzeitig eintreffenden Nachtigallen und unermeßlich viel Blumen! Aber im Garten des Häuschens draußen zwischen dem Armenviertel und den Krankenhäusern fand er diesmal die neueste und lieblichste Blüte schon vor. Sie gefiel ihm, er that ihr alles zu Gefallen und empfahl sie an den Bruder Sommer, und die Empfehlung behielt Kraft und ging weiter von einem zum andern, daß keine Sonnenglut, keine Nebelfeuchte und kein Frosthauch dem „weißen Mädchen“ schade und daß es frisch und gerade aufwachse wie ein junges Bäumchen.

Es ist nicht festzustellen, von wem sie zuerst im zartesten Alter den Kosenamen empfing, jedenfalls paßte er immer besser. So lange ihr Vater lebte, hatte er darauf bestanden, daß man sie immer weiß kleidete, nur mit rosenfarbenen oder lichtblauen Schleifen und Schärpen, und von einem so unpraktischen Manne wie ihrem Paten und Vormund war es nicht anders zu erwarten, als daß er auch jene Forderung des Vaters übernahm mit der für jeden umsichtigen Menschen gewiß höchst thörichten Begründung, wenn man ein junges Menschenkind zur äußeren und inneren Schönheit und Reinheit erziehen wolle, müsse man es vor allem schön und in lichte Farben kleiden, anstatt in solche, die „nie schmutzen“.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_095.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)