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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Wie schnell das gekommen ist,“ fuhr sie fort, Aennes Platz neben der Hofdame einnehmend, „vor vierzehn Tagen hatte noch niemand eine Ahnung von einer Verlobung. Wissen Sie, gnädiges Fräulein, an dem Konzertabend, wo Aenne das Lied sang von der Abendsonne – ja, damals dachte niemand an ein solches Ereignis, und am andern Tage gleich zwei! Ueberrascht waren wir, gnädiges Fräulein, ich sage Ihnen – überrascht über alle Begriffe!“

Aenne stand wie auf Kohlen. „Mütter sind immer überrascht, selbst wenn sie ganz genau wissen, wie es um das Herz der Tochter steht,“ sagte sie gezwungen lachend.

„Glauben Sie es nicht,“ verteidigte Frau Rätin ihre Mutterwürde, „ganz allein hat sie die Geschichte mit sich ausgemacht, und steht dann da plötzlich vor einem: „Mama, ich habe mich verlobt, Basta! – Jawohl, du Trotzkopf'!“

„Frau Rätin“, unterbrach die Hofdame gelangweilt, „ist der Herr Doktor zu sprechen?“

„Gewiß, er hat ja eben noch Sprechstunde“, erwiderte die lebhafte Frau und erhob sich sofort, um Fräulein von Ribbeneck den Vortritt vor einigen andern Patienten zu verschaffen, und nach kaum einer Minute streckte sie den Kopf zur Thür hinein. „Mein Mann läßt bitten, gnädiges Fräulein.“ Toni flüsterte ein „Auf Wiedersehen“ und verschwand.

Aenne und Heinz standen sich allein gegenüber. die Frau Rätin war vermutlich wieder in die Küche geflogen zu ihren Klößen. Eine lange Pause herrschte, keiner von ihnen fand ein Wort. Endlich sagte er mühsam scherzend – er hatte sich erhoben und war vor sie hingetreten.

„Also, das ist Aenne, die liebe lustige Aenne als Braut?“

Sie ging darauf ein. „Und das ist Heinz von Kerkow als Bräutigam?“

„Ja!“ sagte er kurz und nickte ihr ernsthaft zu. „Wie freue ich mich, Aenne, daß Sie so glücklich sind,“ sprach er dann herzlich.

„Sehr bin ich es, sehr!“ versicherte sie eifrig.

„Und so ernsten Pflichten gegenüber – drei Stiefkinder? Arme kleine Aenne!“

„Darauf freue ich mich gerade ganz unbändig,“ rief sie fröhlich.

Er sah sie lange und forschend an, blieb aber stumm. Sie ward ein wenig rot unter der Lüge, sprach dann aber hastig weiter:

„Heinz – ach pardon! – Herr von Kerkow, ich muß Ihnen noch etwas sagen. Vorhin, als von Ihrer Schwester die Rede war, wurden Sie so traurig – bitte, bitte, schreiben Sie ihr, daß wir sie mit offenen Armen aufnehmen wollen, ich kann für meine Eltern einstehen. Lassen Sie sie zu uns kommen, lassen Sie sie nicht so allein jetzt! Sehen Sie,“ fuhr sie erregt fort, in den Fehler aller Leute fallend, die einen andern um jeden Preis etwas glauben machen wollen, den Fehler der Uebertreibung, „sehen Sie, Heinz, wenn Ihre Braut sich ein wenig sperrt in dieser Angelegenheit, so kann man ihr das nicht verdenken – sie fürchtet eben den dritten im Bunde, den Jemand, mit dem sie Ihr Herz ein wenig teilen müßte. Ich aber, Heinz, bin nicht Ihre Braut und infolgedessen auch nicht eifersüchtig, ich würde mich so unbeschreiblich freuen, die Schwester meines Jugendfreundes bei mir zu haben!“

Er sah ganz starr zu ihr hinüber. Was war denn das? Was sollte das heißen? Glaubte sie nötig zu haben, ihm mit klaren Worten zu sagen, daß sie ihn nie geliebt? Mein Gott, davon mußte er wohl auch so überzeugt sein! „Ich danke Ihnen, Fräulein Aenne, ich glaube auch alles, was Sie mir da sagen, glaube es gern,“ antwortete er, „seien Sie versichert, es thut mir jedes Wort wohl, befreit mich von Sorgen, die ich mir arroganterweise gemacht hatte! Was nun aber Hedwig anbetrifft, so muß ich leider für jetzt Ihre Freundlichkeit ablehnen, ein solcher Trauergast würde in Ihr frohes Haus nicht passen – Später, wenn Sie als junge Frau Oberförsterin drüben wohnen und Hedwig in unserem Hause ein Heim gefunden hat, dann nehmen Sie sich ihrer, bitte, ein wenig an ich werde Ihnen sehr dankbar dafür sein!“

Sie hatte ihn recht verstanden, denn sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, also – er war doch in Sorgen um sie gewesen! Ob er jetzt sich überzeugt hat, daß sie ihn niemals geliebt hat? Weiterlügen, mehr lügen! stürmte es in ihr, sie suchte nach einer Antwort und fand keine. Wie erlöst eilte sie gleich darauf der Thüre zu, an der sich der Drücker bewegte, ohne daß jene aufging. Sie öffnete, und ihr fröhliches „Ei! ei! Was kommt denn da?“ ließ den jungen Offizier in seiner Wanderung durch das Zimmer einhalten.

Drei Kinder kamen über die Schwelle, das jüngste, ein Mädel mit krauser blonder Lockenfülle, dick und pummelig wie der Apfel, den es in der Hand hielt, nahm Aenne gleich auf den Arm und küßte es. Der Bub im Sammetkittelchen mit Lederschurzfell, Papierhelm und hölzernem Säbel war die Miniaturausgabe des Oberförsters, derb, untersetzt, mit trotzigen blauen Kinderaugen, die verwundert von Aenne zu Heinz schauten. Die Aelteste, ein mageres Kind von sieben Jahren mit spitzem altklugen Gesicht und straff zurückgekämmtem weißblondem Haar, hielt in jedem Arm eine Puppe, sie machte einen Knix vor dem fremden Herrn und sah ihn ebenfalls mit unverhohlener Neugier aus hellen wimperlosen Augen an.

Aenne hatte sich mit ihrer Last auf den Fenstertritt gesetzt und barg ihr Gesicht in das krause Blondhaar des Kindesköpfchens. Der Junge stand ihr zugewandt und beobachtete sie stumm.

Heinz, den in diesem Augenblick der ganze große Schmerz seiner verlorenen Liebe überfiel, betrachtete irgend eins der Bilder an der Wand. Er konnte sie nicht tändeln sehen mit dem Kinde dieses andern, er konnte sie überhaupt nicht mehr sehen, es ging über seine Kräfte. Mehr als ein bestimmtes Maß von Elend kann der Mensch nicht ertragen! Sie hatte ihn nie geliebt, nun gut, aber er liebte sie desto mehr, wie sehr, das fühlte er in diesem Augenblick erst.

Und Aenne spielte ihre Komödie weiter und hatte ein Gefühl dabei, als müßte irgend etwas in ihrem Herzen zerreißen, als müßte sie schreien. „Glaube mir, glaube mir! Du mußt mir glauben! Siehst du denn nicht, daß ich beinahe sterbe an den Lügen?“

Da klang auf einmal eine Kinderstimme durch das stille Zimmer, eine grollende freche Jungenstimme: „Warum küßt du denn heute Mariechen immerzu?“

Aennes Gesicht tauchte erschreckt empor. „Was meinst du damit, Hermänne,“ fragte sie streng, „ich küsse das Mariechen doch alle Tage?“

„Das ist ja gar nicht wahr!“ rief der Junge, „und wenn sie auf deinen Schoß will, setzt du sie immer wieder auf den Boden.“

„Du bist ein ganz ungezogenes Kind, Hermann! Agnes, bitte, nimm deinen Bruder und geh mit ihm hinaus!“ rief sie.

Aber die ältere Schwester ließ ihren Bruder nicht ohne weiteres tadeln. „Ja,“ sagte sie mit ihrer ganzen altklugen Wichtigkeit, „und einen Schnitz hast du ihm auch nicht an die Peitsche machen wollen, und Puppenkleider willst du auch nicht nähen für meine Lucie, und Fräulein Stübken sagt auch, du verstellst dich bloß, du hättest uns gar nicht lieb, weil du nie mit uns spielst!“

Aennes Lachen machte den unartigen kleinen Mund verstummen. „Na, nun aber rasch hinaus!“ rief sie, „geht zu Großmama in die Küche, ihr armen dummen Gören – faßt das Mariechen ordentlich an, damit es nicht hinfällt!“

„So!“ Sie hatte die Kinder aus der Thüre geschoben und lachte noch immer, sie wußte es selbst kaum. Ganz mechanisch setzte sie sich wieder auf den Fenstertritt und sah scheu zu Heinz hinüber, der dies kurze Zwischenspiel gar nicht bemerkt zu haben schien. Er stand noch immer vor dem Bilde, die Zähne aufeinander gebissen. „Kinder und Narren – –“ sagte er still für sich.

Sie atmete auf. Nein, er hatte ihr armes blutendes Herz nicht gesehen, von dem die Kinder soeben erbarmungslos den Schleier gerissen den sie so sorglich darüber gebreitet hielt. „Ihre Braut bleibt recht lange beim Vater“, bemerkte sie möglichst ruhig.

Er wandte sich langsam zu ihr. Sie saß da, die Arme verschränkt, den Kopf, wie erschöpft, an die Spiegelkonsole gelehnt, die Schultern emporgezogen, als fröstelte es sie, das Gesicht blaß und wie verfallen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_071.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)