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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

vor Augen gehabt und manchmal ein bißchen Kindermädchen gespielt hätte, dann stände ich jetzt vielleicht nicht mehr ganz so lebend vor Ihnen. Lassen Sie also die Familie nur hübsch beieinander, das Kind wird ihm besser thun als alle Trostpredigten, die man sich halten lassen kann und die man sich selber hält! Herrje, mir thät’s ja selber leid, wenn ich das niedliche Krabbelchen mit seinem rotgoldigen Lockenköpfchen nicht mehr zu sehen bekäme! Ist doch mein Junge schon mit seinen siebeneinhalb Jahren ordentlich verliebt in diese fünfzehnmonatige Dulcinea! Na, das hat er von mir, ich hab’ allezeit die kleinen Wickelpuppen gern gemocht, und wenn ich’s vorher nicht gethan hätte, würde ich’s im Kriege gelernt haben, denn, mein verehrter Herr Doktor, das kann ich Sie versichern, wenn man so im Schnee gelegen hat und nachher verwundet im Lazarett liegt, und dabei immerfort denken muß. was macht das Kind zu Hause, kann es wohl schon ‚Vater!‘ sagen und wirst du es auf dieser Erde jemals von ihm hören – da hat man hinterher ein Herz für jedes Kleine, das sich noch seiner gesunden zwei Eltern erfreut – und für die anderen erst recht! – Also wie gesagt, lassen Sie das bleiben und reden Sie auch der würdigen alten Dame zu, daß sie ihm den Kopf nicht heiß macht!“

Es fiel nicht schwer, Frau Klämmerlein von ihrem Wunsche abzubringen, als ihr auch Hans Ritter zuredete, denn dieser nach Ansicht der meisten seiner Kollegen so völlig unpraktische Mensch war für die alte Dame längst das unfehlbare Orakel in allen wichtigen Fragen geworden. Somit reisten die beiden ohne das Kind ab und Haus Bardolf fand sich zum erstenmal allein in den engen Zimmern, die ihm jetzt so weit und öde, so trostlos öde und kalt vorkamen. Luise hatte ihm Speise und Trank hingesetzt, er rührte es nicht an und saß still, ganz starr immer auf den einen leeren Stuhl an der anderen Seite des Tisches hinschauend. Da weckte ihn ein helles Kinderlachen im Nebenzimmer auf. Die kleine Gretel war wieder wach und spielte im Dunklen mit ihrem Wollschäfchen, das neue Spielzeug ließ sie nicht ruhig schlafen.

„Sie versteht es noch nicht; sie ist noch so klein“, sagte die gute Luise schüchtern und wandte sich ab, um zu weinen.

Ja, sie versteht es noch nicht. Erst später, allmählich wird sie von anderen erfahren was sie besaß und so früh verlor. Aber ganz verstehen wird sie es erst noch viel später, wenn sie ihre eigenen Kinder heranwachsen sieht und sich freut, für sie sorgen zu können! Alsdann wird sie erkennen, wie viel ärmer sie war als ihre Kinder – und sie wird sie um so inniger lieben.


8.

Der Tag, der den glücklichen Doktor Hans Mohr zum Gatten von Fräulein Beate und zum Mitleiter der Musteranstalt für Töchter der gebildeten und besitzenden Kreise machte, fiel genau drei Jahre nach jenem Tage, an dem sich das morsche geistige Band des Hansebundes vor der Erscheinung eines jungen schlanken Mädchens mit blonden Flechten und in hellen Kleidern sacht und still gelöst hatte. In diesen drei Jahren war Hans Mohr recht weit gekommen, und er hatte gewiß allen Grund, zuversichtlich auszusehen, während er am offenen Fenster des Gasthofs die weißen Handschuhe vorsichtig anzog und drunten auf dem Markte die Augustsonne fröhlich auf seinem Denkmal glitzerte.

Es war ein ganz ansehnliches Denkmal. Die Bronzebüste des berühmten Volkserziehers wurde von allen alten Leuten des Städtchens für sprechend ähnlich erklärt, und nur ein Teil der weiblichen Einwohnerschaft fand die Toilette der Idealfiguren etwas mangelhaft, die nach bewährtem Brauche den Sockel auf den drei inschriftfreien Seiten belebten. links die Pädagogik, rechts die Philanthropie und hinten, mit dem Gesicht nach dem Spritzenhäuschen der Stadt, die Aufklärung, alle drei in ärmellosen langen Frauenhemden, die aber auf der Schulter mit einer Fibula geschlossen und überaus zerknüllt waren, also antik. Dem Gesicht nach war es dreimal dieselbe Dame, aber sie hatten jede ihr Symbol bei sich, die Pädagogik erklärte einem artigen Kinde das Abc, die Philanthropie drückte ein zerlumptes Kind an sich und die Aufklärung hatte gar kein Kind, sondern eine Fackel und einen Heiligenschein, so daß nur ein ganz unkundiger Mensch die drei miteinander verwechseln konnte, übrigens hatte Doktor Mohr die Bedeutung einer jeden in seiner Festrede bei Enthüllung des Denkmals gründlich angegeben und erklärt. Und am Abend jenes weihevollen Tages, der sehr passend in den wunderschönen Monat Mai fiel, hatte man auf dem Festkommers auch Hans den Festredner und Fräulein Beate als eben verlobtes Paar ausgerufen und gefeiert. Die Frau Direktor hatte bis dahin noch im stillen gewünscht, die Entscheidung ein wenig weiter hinauszuziehen; aber auch Fräulein Beate hatte ihre Frühlingsempfindungen, und so hatte sie den Freund mit Hilfe ihrer Festtoilette auf eigene Faust zur Erklärung veranlaßt und ihn mit sich verlobt, eine halbe Stunde nach der Enthüllung der großväterlichen Büste. Dagegen hatte nun wieder die Frau Direktor durchgesetzt, daß die Hochzeit in die Ferien verlegt wurde, weil sich sonst durch Bewirtung der Schülerinnen und der Lehrpersonen die Kosten erheblich und unnötig erhöht haben würden.

Eine sehr modern und vornehm ausgestattete Karte im offenen Umschlag setzte Doktor Hans Ritter von der vollzogenen Vermählung in Kenntnis. Es ist zu hoffen, daß er nicht mehr erwartete, jedenfalls warf er die „Drucksache“ nach einer halben Minute nachdenklichen Betrachtens beiseite, um sich wieder einer anderen Postsendung zuzuwenden, die er eine Viertelstunde zuvor durch den Geldbriefträger erhalten hatte. Diese so ungleich erfreulichere Sendung aber hatte er im Grunde nur seiner manchmal bis an Unordnung streifenden Zerstreutheit zu verdanken. Denn als er – ungefähr zur Zeit von Fräulein Beatens Verlobung – endlich den ersten Band Manuskript von seiner „Kritischen Würdigung etc.“ dem Professor Isaak Bernstein zur freundschaftlichem Begutachtung überreicht hatte, war er sehr erstaunt, als ihm der Professor acht Tage darauf einen Teil des Manuskripts zurückbrachte und sagte. „Nun, ich hab’ Ihr Buch noch nicht ganz durch, lieber Kollege, was ich gelesen hab’, hat mir Freude gemacht, ’s ist ein gelehrtes Buch, ’s ist ein gründliches Buch, und ’s ist gar nicht geschrieben, wie ein deutscher Philosoph sonst schreibt, man kann’s beim ersten Lesen verstehen, wenn man Herz hat, denn es steckt viel Herz drin! Wenn ’s Buch herauskommt, werden die Philosophen sagen: er schreibt wie ein Dichter, er ist noch zu jung, und die Journalisten werden sagen. Gott, es wär’ was geworden, wenn er nur nicht so gelehrt wär’. Nun, lassen Sie sie sprechen, lassen Sie sie kritisieren, denn dazu sind sie da! – Aber das hier, das hab’ ich heute gelesen, es gehört nicht hinein, und es ist auch nicht vollständig, wenn Sie das Ende dazu finden können, so geben Sie’s mir, und wenn Sie noch mehr von der Art haben, so möcht’ ich recht schön bitten, geben Sie’s mir auch, denn warum? ’s ist nicht schlecht, ’s ist gut, und es interessiert mich.“

Daraufhin hatte Hans Ritter dem alten Herrn denn wohl schließlich seine Novellenversuche und einiges in Versen anvertrauen müssen, der alte Herr hatte sie gelesen, sehr verständig und eingehend mit ihm besprochen, und zuletzt hatte er zwei Erzählungen ausgesondert, die er für druckreif erklärte – „und Sie werden sie loswerden; denn warum? ’s ist Wein, guter Wein, und von einer Sorte, wie sie jedermann gern trinkt. Schicken Sie sie ein! Nun, warum wollen Sie sie nicht einschicken. Weil Sie nicht wissen, wie man’s macht? Nun man giebt sie eben auf die Post, mit einem kleinen Briefchen, ’s kommt an. – Wissen Sie was?“ fügte er nach einigem Zögern bei, während er sich beiseite wandte und irgend etwas zwischen den Bücherregalen zu suchen schien – „schicken Sie sie an den Herausgeber der ‚Iris‘, Herrn Doktor Julius Alexander Stein, er wird’s nehmen, denn er kennt seine Leute. – Aber Sie dürfen ihm nicht sagen, daß ich Sie an ihn gewiesen habe.“

Das hatte Hans Ritter versprochen und war dann schnell zu einer anderen Frage übergegangen, denn er hatte die Verlegenheit des Professors bemerkt und kannte ihren traurigen Grund. Der Doktor Julius Alexander Stein war der jüngere Bruder des Professors Isaak Bernstein, und er hatte sich taufen lassen. Seitdem war er für den strenggläubigen Bruder tot. Isaak Bernstein sprach nicht übel von seinem Bruder – er mied es überhaupt, von ihm zu sprechen, er schrieb nicht an ihn und nahm keine Briefe von ihm an; und es war ein unwidersprochenes Gerücht, daß irgendwo auf einem jüdischen Friedhof weit hinten im Osten ein offenes Grab sei mit einem namenlosen Leichenstein davor, angelegt im Auftrag Isaak Bernsteins – das „wartende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_063.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)