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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

und Volksschriftsteller in der ersten Hälfte des Jahrhunderts viel Zuneigung erworben. Dessen Sohn war allerdings dem väterlichen Berufe nur insoweit treu geblieben, als er eine Lehrerin heiratete, selber hatte er als Direktor einer Pulverfabrik Berufsstellung, Vermögen und noch im besten Mannesalter einen plötzlichen Tod gefunden. Die Witwe aber war in das geistige Erbteil ihres Schwiegervaters zurückgetreten, sie hatte in demselben kleinen Städtchen, wo er vordem gelebt hatte, jene Erziehungsanstalt gegründet, für welche besonders in den ersten Anfängen der bewährte Namen ein überaus schätzbares Anziehungsmittel bildete.

Als Doktor Hans Mohr die junge Dame kennenlernte war er mit den Schriften ihres Großvaters nur erst seit kurzem oberflächlich bekannt. Daß er nun sogleich seine ganze Mußezeit darauf verwandte, diese Schriften zu studieren und das Ergebnis seiner Studien in Form einer Biographie weiter zu verfolgen, daran war allerdings wohl die Aussicht auf näheren Verkehr mit jener Dame und auf den Dank ihrer Familie mit schuld. Der zur Zeit im Schulwesen herrschenden Richtung entsprach ja der etwas altväterische Geist, der in ihnen waltete, nicht. Aber Mohrs kluger Sinn hatte in den Werken des Verstorbenen auch mancherlei Stellen entdeckt, auf welche er den Nachweis aufbaute, daß der berühmte Verfasser im Grunde ein Vorkämpfer der nunmehr herrschenden Richtung gewesen sei. Seitens der Familie wurde der Plan mit großer Freude aufgenommen, Briefe, Tagebücher und anderer Stoff zur Verfügung gestellt, und ein lebhafter sehr gelehrter Briefwechsel entspann sich zwischen den beiden Damen und dem neuen Geschichtschreiber ihres Hauses. Eine Zeit lang wirrte sich in diesen Briefwechsel von seiten der Damen ein fremder Faden, verstohlene, einladend freundliche Andeutungen, daß ein Uebertritt des Herrn Doktors aus seiner jetzigen Stellung in den Verband ihrer Anstalt seiner Arbeit gewiß ersprießlich und ihnen sehr wertvoll sein würde. Aber Hans Mohr wich höflich beiseite. Er war nicht der Mann, wie Hans Bardolf ein Angebot auf Treu’ und Glauben des Anbietenden zu nehmen, und was er unter der Hand von Emilie Flügge und anderen über die Ausnutzung der Hilfskräfte an jener Anstalt erfahren hatte, ließ ihn die Klugheit der Frau Direktor weit höher schätzen als ihre Freigebigkeit. Uebrigens schien seine Ablehnung die Achtung der Damen vor ihm zu erhöhen. In der liebenswürdigsten Weise wurde er eingeladen, die abschließenden Quellenstudien für sein Buch mit einem Ferienaufenthalt in der Anstalt zu verbinden.

Was er dort beobachtete, erweiterte sein Verständnis und leider auch seine Achtung für die Geschäftsführung der Anstaltsleiterinnen noch erheblich. Die Frau Direktor konnte sich an Feinheit der äußeren Erscheinung mit Fräulein Beate, ihrer Tochter, nicht messen, sie war eine kaum mittelgroße, sehr beleibte Dame mit unschönen, ziemlich plumpen Bewegungen, aber an zweckbewußt sicherem Denken und Handeln war die Tochter doch erst eine noch nicht vollendete Kopie der Mutter. Das Haus hatte seinen ganz bestimmten „Geist“, von welchem in Ansprachen, Einzelgesprächen und sogar Aufsätzen erstaunlich viel die Rede war. Eine auserlesene Probe dieses Geistes mochte die gemeinsame Weihnachtsbescherung für die Familie, den nicht verreisten Teil der Lehrkräfte und Schülerinnen und sonstige Angehörige und Freunde des Hauses sein, welcher auch Hans Mohr als verehrter Hausgast beiwohnte.

Jede Schülerin fand unter dem großen Weihnachtsbaum ein Geschenk, meist ein Buch poetischen oder geistlichen Inhaltes. Mit einem vollen Tone mütterlicher Herzlichkeit wies die Frau Direktor darauf hin, daß diese Gaben, dem Geiste des Hauses entsprechend, einfach und mehr nach ihrem inneren Werte als dem prunkvollen Augenschein gewählt seien; denn nicht der Preis mache ein Andenken lieb und unvergeßlich, sondern der Geist der Liebe, in dem es gegeben und empfangen werde! Sodann begann sie, allmählich und zufällig die zum Teil sehr kostbaren Gaben zu entdecken, welche von den reichen Eltern oder Vormündern der einzelnen Schülerinnen für sie und Fräulein Beate übersandt worden waren. Beide Damen begrüßten jedes Geschenk mit einem wortreichen Ausbruch der Verwunderung, der sich nur im Geiste des Hauses mit der Thatsache ausgleichen ließ, daß die betreffenden Postpakete und Ankündigungen bereits vor einigen Tagen durch ihre Hände gegangen waren, sie priesen den Geschmack der Spender und entrüsteten sich wiederholt über die allzu prächtige Auswahl, aber es schien unzweifelhaft, daß sie in keinem dieser Fälle den inneren Wert der Gabe nach der Niedrigkeit des Preises schätzten. Bei dem Angebinde, welches Hans Mohr von den Damen erhielt, konnte freilich nur von innerem Werte gesprochen werden: es war ein Handexemplar des ersten Werkes von Beatens Großvater mit einem Druckfehlerverzeichnis in Bleistift von der Hand des Verfassers.

Hernach beim Festmahle saßen die Erwachsenen und die Schülerinnen ausnahmsweise beisammen, am oberen Ende der Tafel gab es weißen und roten Wein, am unteren ein Erzeugnis aus Himbeersaft und Wasser, welches in Pensionaten unter dem Namen Unschuldsbowle oder Lämmerwein bekannt ist. Fräulein Beate saß zwischen Hans Mohr und einem Hilfsprediger aus dem Städtchen, welcher im Nebenamt als Anstaltsgeistlicher wirkte, daneben auch Litteraturstunden gab. An diesem Abend hatte er sich bereits durch eine kleine Ansprache unter dem Weihnachtsbaume nützlich gemacht, auch die gemeinsamen Gesänge auf dem Harmonium begleitet. Es war ein junger Mann von höflichem Wesen; Frisur und Bart zeigten einen diskret liberalen Schnitt. Dieser Gast erhob sich beim Nachtisch zu einer zweiten Ansprache, in welcher er gewissermaßen die weltliche Ergänzung zur ersten bot. Er erwähnte das Julfest der alten Germanen, schaltete einige tadelnde Worte über die Ausartungen der Weihnachtsfeier im finstern Mittelalter ein und wies auf die weltbefreiende Macht der Neuzeit hin, welche das Weihnachtsfest erst recht zum Feste der Familie gemacht habe. „Und auch wir empfinden es heute als solches, denn sind wir nicht hier alle zusammen eine große Familie, in einem Geiste der Liebe und Gastlichkeit vereinigt.“ Hier machte er eine kleine Pause, die übrigen gaben Beifallszeichen, und die Frau Direktor und Beate begannen verschämt niederblickend an ihren Gläsern zu drehen, denn der Redner war jetzt beim Geiste dieses Hauses angelangt. Er pries diesen Geist, fand ihn vornehmlich in den beiden leitenden Damen verkörpert und schloß mit einer Huldigung für „unsere verehrte, teure Frau Direktor“, die allen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, und vor allem auch euch, liebe Schülerinnen, ein glänzendes Vorbild unermüdlicher Thätigkeit weit über das Maß der Pflicht hinaus ist!“ Dann klangen die Gläser, die Frau Direktor wischte sich mit dem Tuch über die Augen, und es war, als ob keiner den Unterschied ahnte, der darin lag, daß die Frau Direktor unermüdlich für sich thätig war, während ihre Lehrerinnen sich weit über das Maß der Pflicht hinaus bemühen sollten – gleichfalls für die Frau Direktor und für Beatens Mitgift, gegen einen Sold, der nicht viel mehr als die Hälfte des Honorars für einen ländlichen Hauslehrer betrug, nebst Anwartschaft auf ein einsames Greisenalter in irgend einem Armejungfernspital. Es schien wirklich, als ob keines von diesen bescheidenen, mehr oder minder unmodern aufgeputzten und mehr oder minder abgehetzten Wesen sich des Unterschieds auch nur heimlich bewußt zu sein wagte; und das war vielleicht der höchste Triumph für den Geist dieses Hauses.

Diesem Geiste widersprach es auch nicht, daß der Doktor Hans Mohr erst am vierten oder fünften Tage seines Besuches von den Damen auf seine Bekanntschaft mit einem früheren Mitgliede ihres Hauses angesprochen wurde. Er selber hatte diese Bekanntschaft nicht erwähnt, und als ihm endlich Fräulein Beate beim Durchblättern eines Photographiealbums – so ganz zufällig – Emiliens Bild zeigte und mit einem geheimnisvollen Lächeln fragte: „Diese Dame kennen Sie wohl schon, Herr Doktor“ – da antwortete er ziemlich ohne Erröten. „Gewiß; ich wohne bei einer Verwandten von ihr.“

„Ach ja,“ sagte die Frau Direktor mild und rückte an ihrer Brille, „nicht wahr, der Bräutigam wohnte auch in jenem Hause. Ich erinnere mich, sie war ja vier Wochen dort zu Besuche. Die arme Emilie! Sie war eben noch ganz Kind. Ich hatte es so gut mit ihr vor, vom nächsten Jahr an wollte ich ihr als Gehaltszulage eine alljährliche Prämienquittung auf unser „Lehrerinnenheim“ bewilligen. Wissen Sie, da hätte sie nach vollendetem sechzigsten Lebensjahr sorgenfrei leben können, ohne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_047.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)