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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

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Die Sängerin der Heimatliebe.

Ein Besuch der Heimstätten Annettens von Droste-Hülshoff.
Von Victor Schmitt.
Illustriert von Sally Wiest mit Benutzung von Skizzen der älteren Schwester und einer Nichte der Dichterin.

Schloß Hülshoff.

Am 10. Januar 1897 sind hundert Jahre verflossen, seit eine der edelsten und begabtesten deutschen Dichterinnen, Anna Elisabeth von Droste-Hülshoff, das Licht der Welt erblickte. So reich unsere Litteratur an Poeten ist, durch welche die Liebe zur Heimat innigen Ausdruck gefunden hat – in höherem Maße und mit wärmerer Empfindungsglut ist es wohl kaum geschehen wie durch diese Eine, die man mit Recht als die „Sängerin der Heimatliebe“ gefeiert hat.

Wer sich die Eigenart ihres dichterischen Wesens so recht vergegenwärtigen will, muß sie daher im Geiste an den Stätten aufsuchen, die während ihres Lebens ihr vornehmlich die Heimat bildeten; wir können dabei als Führer Ansichten benutzen, die von Künstlerhand zum Teil nach Zeichnungen ausgeführt sind, die bei Lebzeiten der Dichterin entstanden und von der älteren Schwester und einer ihrer Nichten herrühren.

In Westfalen stand ihr die Wiege. Unweit der Hauptstadt des Münsterlandes war ihr Vater auf dem Schlosse Hülshoff ansässig. Sie stammte aus einem altwestfälischen Geschlechte, das im 13. Jahrhundert mit dem Drosten-, d. h. Truchseßamt des Münsterschen Domkapitels belehnt ward. Von alters her ansässig in der Gegend war auch das Geschlecht ihrer Mutter. Die vortreffliche Frau ließ sich die Erziehung der früh kränkelnden, aber auch früh ungemein geistesregen Tochter mit zartem Eingehen auf ihr besonderes Wesen angelegen sein. Mit wie tiefer Verehrung und Dankbarkeit Annette an ihrer Mutter hing, davon zeugen die Verse, die sie ihr gewidmet:

„So gern hätt’ ich ein schönes Lied gemacht
Von deiner Liebe, deiner treuen Weise;
Die Gabe, die für and’re immer wacht,
Hätt’ ich so gern geweckt zu deinem Preise.

Doch wie ich auch gesonnen mehr und mehr,
Und wie ich auch die Reime mochte stellen,
Des Herzens Fluten wallten drüber her,
Zerstörten mir des Liedes zarte Wellen.

So nimm die einfach schlichte Gabe hin,
Von einfach ungeschmücktem Wort getragen,
Und meine ganze Seele nimm darin –
Wo man am meisten fühlt, weiß man nicht viel zu sagen!“

Auf dem Schlosse Hülshoff wuchs Annette auf. Die Türme des Schlosses, die gezackten Giebelwände, Ringmauer und Zugbrücke mit dem steinernen Kreuzritter gehörten zu den ersten äußeren Eindrücken, welche das Auge des Kindes aufnahm und die seine erwachende Phantasie beschäftigten.

Die um zwei Jahre ältere Schwester Jenny, die spätere Gemahlin des Freiherrn Joseph von Laßberg, und zwei jüngere Brüder waren ihre Spielgenossen.

Einer Wasserburg glich das Schloß, Ried- und Sumpfgräser standen im Weiher ringsum, ein größerer Park dehnte sich mit prächtigen Baumgruppen dahinter, manch’ liebe Spielstätte der Kinder bergend. In weiterer Umgebung zeigt die Landschaft den echten Charakter des westfälischen Landes. Heide ringsum mit ihren blühenden Sträuchern, Weiher und Sümpfe mit hohen Gräsern und Schilfkolben, das dunkle Moor mit Wallhecken umzogen, zwischen den Buchenhainen und Wäldern die großen Bauernhöfe. Der Charakter dieser Einförmigkeit und Abgeschlossenheit spiegelt sich auch in der Eigenart der Bewohner, in ihrer Einfachheit, Gutmütigkeit, dem Hang zum Mystischen, in tiefer Religiosität und warmem Naturempfinden.

Annette ist ihrem ganzen Wesen nach eine echte Tochter Westfalens und des Münsterlandes gewesen. Die Eigenart des Landes wie seiner Bewohner findet sich mit wunderbarer Naturtreue dargestellt in ihren Gedichten in ihrem ganzen Gefühlsleben. Und wie am ganzen Westfalenland hing ihr Herz mit zärtlicher Innigkeit an dem Vaterhaus, in dem sie die schönen Jahre ihrer Kinderzeit verbracht hatte. Sie hat es oft in ihren Liedern geschildert, und als sie später in der Fremde weilte, da beschwor ihr das Heimweh – wie oft! – das Bild des alten Wasserschlosses. Ihm widmete sie das tief ergreifende Gedicht „Grüße“ –

Einfahrt zum Schloß Hülshoff. Das Rüschhaus.

Dir, Vaterhaus mit deinen Türmen,
Vom stillen Weiher eingewiegt,
Wo ich in meines Lebens Stürmen
So oft erlegen und gesiegt;

Ihr breiten, laubgewölbten Hallen,
die jung und fröhlich ich gesehn
Wo ewig meine Seufzer wallen
Und meines Fußes Spaten stehn.“

Die empfängliche Kinderseele unserer Dichterin gestaltete ihr die Natur überall zu einem Tempel Gottes. Schon sehr früh fühlte sie sich gedrungen, dies dichterisch auszusprechen. Der Natur der Heimat galten gleich die ersten noch gestammelten Verse. Und so blieb es. Mit ungekünstelter Gemütsinnigkeit reiht sie Bild um Bild aneinander, in der Ausführung manchmal wohl spröd, herb und hart – eben westfälische Art! – aber immer naturgetreu und wahr!

Auch ihr Geist reifte früh. Auf Hülshoff wurden die alten Klassiker gelesen, Geschichte, Gesang und Musik getrieben. Aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_028.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2023)