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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

sie nicht schleunigst umwende und sich beeile, den Stiefel auszuziehen. Von dem Sonnenuntergang, von dem Heimweg auf dunklen Waldpfaden sprach Aenne freilich kein Wort, nur in ihren leuchtenden Augen stand sie, die Geschichte ihrer jungen Liebe, aber diese Schrift konnte keines von den dreien lesen.

Sie sprudelte über vor lauter innerer Glückseligkeit; es war ja auch zu wundervoll, daß sie ihn heute früh schon gesehen hatte! Und nun heute abend – wie wollte sie das Lied singen, das Lied von der Abendsonne! Sie wußte, wie alles kommen würde: in irgend einem Fenstereckchen des großen Saales würden sie sitzen, nachdem er ein wenig kaltes Fleisch und Salat und ein paar Gläser Champagner vom Büfett geholt, so allein, so einsam zu zweien, wie drüben im Walde, der Heinz Kerkow und sie, der Heinz Kerkow, der wilde prächtige lustige Heinz, den sie liebgewonnen, so über alles lieb!

Aenne May fiel es vorläufig gar nicht ein, weiter zu denken; sie war sich gestern ihrer Liebe bewußt geworden, und die war aufgeblüht wie eine Rose mit hundert Blättern. Wie es weiter kommen würde, das kümmerte sie nicht, sie sog das Glück der Gegenwart in vollen Zügen ein.

Beim Ankleiden zur Soiree auf dem Schloß trieb sie tausend Possen. Natürlich ging dieser feierliche Akt wieder in der Eßstube vor sich, Mama frisierte ihr schönes Töchterlein vor dem Spiegel, der über der Kommode hing; von der Petroleumlampe war die Glocke genommen, damit sie heller leuchte, und Tante Emilie, die als Landfremde nicht hoffähig war, half wie eine perfekte Kammerjunger. Ueberall lagen Sachen umher, das unsterbliche schwarze Seidendamastkleid der Rätin baumelte am Thürpfosten und der etwas verflüchtigte Geruch des Mittags war noch mit dem Duft von Kölnischem Wasser und Mandelseife versetzt.

„Nee – reizend!“ erklärte Tante, als Aenne fertig dastand. „Wenn du 'mal eine Excellenz bekommst, trautstes Herzchen, werde ich mich nicht wundern.“

„Was soll ich mit einer Excellenz, Tante,“ antwortete das Mädchen und knöpfte die gewaschenen Handschuhe zu, „ich will keinen Alten.“

Die Rätin lächelte. Sie war auch wirklich reizend, die Aenne, und wenn sie ebenso vernünftig wäre wie hübsch, könnte sie bald versorgt sein! Der Oberförster nebenan bemühte sich auffällig um sie, ein guter stattlicher Mann. Aber Aenne that ja, als sei sie in diesem Punkte taub und blind.

„Höre, Engelsköpfchen, wird heute getanzt?“ erkundigte sich Tante Emilie.

„Hoffentlich, Tante!“

„Na, da wird wohl der Kerkow Matador sein?“

„Er wird ja vermutlich Sorge tragen, daß ich nicht ganz sitzen bleibe.“

„Wenn er's nur könnte, er tanzte den ganzen Abend mit dir, wie Hans mit Grete,“ nickte die Tante.

„Ich denke, der Kerkow wird genug zu thun haben mit den fünf Asselbach’schen Komtessen, der Toni Ribbeneck und den andern vom hohen Adel; bezweifle, daß er sich viel um Aenne kümmern kann,“ meinte die Mutter und bohrte eine Granatnadel in das Blondenhäubchen auf ihrem Scheitel.

Aenne warf ihrer Mutter einen mitleidig drolligen Blick zu. „Meinst du, Mama. O weh! – Da setze dich nur nicht in den Tanzsaal, ich fürchte, ich werde furchtbar schimmeln.“ Dabei aber strahlte ihr Gesichtchen von Siegesgewißheit.

Die ahnten ja samt und sonders nichts von alle dem Herrlichen, was sie wußte!




„Ich bleibe heute nacht auf, ich muß doch erst hören, wie ihr euch amüsiert habt,“ erklärte Tante Emilie beim Abschied, „ich stell' mir Thee in die Röhre und leg' Patience.“ Und so that die alte Dame, zuweilen auch trat sie ans Fenster und schaute zum Schlosse empor, in dem die langen Fensterreihen des Mittelstockes rötlich in den Oktoberabend hinausleuchteten. Die alte seelensgute Frau, die das Kind ihres Bruders abgöttisch liebte, malte sich aus, wie Aenne an den Flügel treten und singen würde, wie sie, zur Herzogin beschieden, der hohen Frau die Hand küßte und wie sie dann mit dem Kerkow im Walzer dahin flog. Sie hatte es gemerkt, längst gemerkt, daß sich die beiden mächtig anzogen, und deshalb hatte sie Mitleid gespürt und die jungen Leute gestern allein gelassen, mitten im Walde, natürlich in der Meinung, daß sie als Brautleute nach Hause kommen würden.

Das war nun nicht geschehen, die Jugend war eben anders heute, gar nicht mehr so ideal, so stürmisch. Von dem Kerkow hatte sie anderes erwartet. Hätte jemand ihr gesagt. Tante Emilie, die Jugend ist noch ebenso, ebenso stürmisch, so heiß, so begeistert, nur die Welt, die Verhältnisse sind anders geworden, sie hätte es nicht geglaubt. – Aber diesen Jemand gab es nicht. Tante Emilie hatte eben in den denkbar zurückgezogensten Verhältnissen gelebt und war drauf und dran, sich in der naivsten Weise der Welt bei Aenne und Kerkow den Kuppelpelz zu verdienen.

Sie legte sich alle möglichen Patiencen – wird er sich heute abend erklären? Keine ging auf. Sie fieberte vor Ungeduld, Aenne wiederzusehen, sie würde es ihr auf den ersten Blick anmerken, ob das große Ereignis eingetreten sei, wie sie es gestern abend gemerkt, daß sich das junge Paar um einen großen Schritt näher gekommen sein müsse, denn die Aenne war ins Zimmer getreten, so eigen, so rosig, so, als sei noch was an ihr hängen geblieben von der Glut der Abendsonne. Es war kein Zweifel, heute mußte sich etwas ereignen!

Die Stunde bis zwölf Uhr, wo die Schloßfeste, dem hohen Alter der Herzogin zulieb, ihren Schluß fanden, verging, Tante Emilie, die ein klein wenig eingenickt war in der Sofaecke, hörte die Hausthür aufschließen wischte den Schlaf aus den Augenn und sah den Eintretenden entgegen, ihre Blicke suchten natürlich Aenne. Ein blasses müdes Antlitz blickte an ihr vorüber.

„Engelchen, bist du krank?“ rief sie.

„Nein, nur müde,“ war die tonlose Antwort. Dann ein flüchtiges Kopfnicken zur Tante hinüber, ein ebenso tonloses „Gute Nacht!“ und sie war verschwunden.

„Was ist's denn mit der Aenne?“ fragte die Erschreckte die Eltern.

„Sie hat sich vielleicht beim Singen zu sehr angegriffen,“ meinte der Herr Rat und gähnte.

„Gott bewahre! Als ob sie das spürte! Nein sie hat vielleicht zu viel getanzt!“

„Ach, du liebe Zeit,“ sagte die kleine dicke Rätin, „einmal mit Günther, dem Oberförster, die Polonaise, und eine Extratour mit Kerkow, sonst habe ich sie nicht gesehen. Es wimmelte so von Damen, und die paar Herren hatten genug zu thun, die Komtessen herum zu schwenken, die vollzählig angelangt waren.“

„Aber Kerkow konnte doch –“ ereiferte sich die Tante, „der konnte doch öfter mit ihr tanzen, wo er jede Woche ein paarmal hier an unserm Tische sitzt!“

„Ei, der hatte genug mit der Ribbeneck zu thun,“ lachte gutmütig die Frau Rätin, der es endlich gelungen war, sich aus ihren Mänteln und Tüchern herauszuschälen, und die jetzt ihrem Gatten half. „Aber nun wollen wir schlafen, gelt, May. Wer weiß, ob die Herzogin dich nicht noch herausklingeln läßt! Daß du nicht vergißt, die fünfundsiebzig Pfennige, die du im Whist gewonnen hast, in die Sparbüchse zu thun – Aenne braucht notwendig um Weihnacht ein neues Gesellschaftskleid.“

Der Rat nickte. Ihm war von dem langen Stehen an der Saalwand während des Konzertes, des Singsangs und Klaviergetrommels, wie er es nannte, schon ganz elend geworden. Die Hummermayonnaise sowie die Kaviarsemmeln des Büffetts hatten auch nicht gewartet, bis an ihn die Reihe kam, er hatte mit ein wenig kaltem Rehbraten und Heringssalat vorlieb nehmen müssen. Letzterer aber war nicht nach seinem Geschmack gewesen, den konnte nur Eine genießbar zubereiten und das war seine Frau. Dann, wie ärgerlich, das Whist mit dem Oberamtmann, dem Hofprediger und dem Oberförster! Die Herren wollten partout den Point zu einem Groschen spielen, er setzte es aber durch, daß er nur einen Pfennig galt. Er verlor sonst immer, und nun heute gewann er! Das hätte sieben Mark und fünfzig Pfennig betragen – na, es war nicht mehr zu ändern!

Mit einem halb gähnenden „Gute Nacht“ zur Schwester zog er ab in Begleitung seiner Frau. Tante Emilie blieb zurück, packte die Karten zusammen, schloß die Läden und schlich auf ihren Filzpantoffeln nach oben in ihr Stübchen, das im Giebel neben dem Aennes lag, nur durch eine kleine Tapetenthür getrennt, die aber auf Aennes Seite mit einem Kleiderschrank versetzt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_022.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)