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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

gebrach es ihnen an der so wichtig gewordenen Beihilfe ererbten Besitzes oder aber einflußreicher Verbindungen, und wenigstens zweien unter ihnen, Bardolf und Ritter, ging auch die Fähigkeit ab, sich in dem geselligen Leben ihrer Tage ganz wohl zu fühlen. Denn dieses Leben stand für sie allzusehr unter dem Zeichen jener Richtung auf rücksichtsloses Erwerben und rücksichtsloses Genießen, die keiner Nation nach einem für sie siegreichen Kriege erspart bleibt. Die Lobredner der Zeit sprachen von einem ungeheueren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung, andere, nicht minder übertreibend, beklagten darin einen ungeheueren Schwindel; ruhige Beobachter mochten an einen starken und plötzlichen Sommerregen erinnert werden, der manches Feld segnet, manchem Säumigen oder Leichtsinnigen die überreife Frucht verregnet, friedliche Spaziergänger aber ins Zimmer bannt und ihnen die Aussicht völlig zudeckt. Die Hansebrüder gehörten zu diesen Spaziergängern; je reichlicher der goldene Regen auf das Land niederrieselte, um so unwegsamer wurde es für sie. Sie hatten ziemlich viel studiert, aber nichts, womit man irgend einen Rohstoff in Geld oder Geldeswert umwandeln kann, und besaßen sehr wenig; also gehörten sie zu den ganz kleinen Leuten.

Da kündigte sich ganz unversehens eine neue Erscheinung an. An einem schönen Augustabend, dicht vor den großen Schulferien, klopfte die würdige Frau Margarete Klämmerlein plötzlich an „Hamburgs“ Thür, wo die Hansebrüder eben um eine Batterie Bierflaschen versammelt saßen und mit großer Stimmkraft das Scheffel’sche Lied absangen.

„Ott’ Heinrich, der Pfalzgraf bei Rheine,
Der sprach eines Morgens: Rem blemm!“

Ziemlich verlegen starrten sie die unerwartete Besucherin an, deren Gehör und Geduld sie diesmal doch wohl zu hart geprüft hatten. Doktor Ritter schob ihr einen Stuhl hin, Doktor Bardolf bot ihr ein wappengeschmücktes Seidel voll Bier und Doktor Mohr bemerkte einschmeichelnd: „Wir sprachen eben von Ihren Kapuzinern, Frau Klämmerlein; was das eine Blütenpracht ist! Alle Tage wieder etwas Neues.“ Aber die alte Dame verschmähte Sitz und Trunk und blickte ordentlich befangen vor sich hin. „Ja, da haben Sie wohl recht,“ meinte sie. „Es giebt immer etwas Neues. Ich wollte den Herren auch eine Neuigkeit mitteilen. Ich erwarte nämlich Besuch. Morgen kommt sie.“

„Wer denn?“ riefen die Drei aus einem Munde. Frau Klämmerlein schluckte ein paarmal, dann blickte sie herzhaft auf. „Meine – Enkeltochter, Fräulein Emilie Flügge,“ sagte sie und griff nach der Klinke. „Aber nun will ich weiter nicht stören. Guten Abend, meine Herren!“ Und war verschwunden.

Vor den beiden Lehrern ließ sie sich auch am folgenden Morgen nicht sehen; aber dem Doktor Hans Ritter, der eine Stunde später als seine Freunde zum Dienst zu gehen pflegte, schüttete sie ihr Herz aus. Er traf sie eben dabei, einige Schreinerburschen abzulohnen, die ihr ein zweites Bett in ihrer großen Schlafstube aufgestellt hatten.

„Sehen Sie, Herr Doktor,“ sagte sie, als die Leute fort waren, „hier unten soll sie bei mir wohnen wie früher ihre Mutter selig. Ich hoffe, die Herren geben uns auch einmal die Ehre, daß es dem lieben Kinde nicht gar zu einsam bei seiner alten Großmutter wird. Und sehen Sie, das ist ihr Bild!“ Sie zog eine Schublade auf und reichte ihm eine verblaßte Photographie, die ein pausbackiges, großäugiges Kindchen, kaum ein Jahr alt, im weißen Hemdchen darstellte.

„Hm,“ sagte er, „sie wird sich wohl inzwischen etwas verändert haben.“

Frau Klämmerlein nickte und wischte sich mit dem Tuch über die Augen. „Ach ja,“ sagte sie, „das Bild ist freilich auch an die achtzehn Jahre alt. Ihre Mutter schickte es mir, es war ihr vorletzter Brief.“

Sie blickte in die Schublade nieder. Doktor Hans Ritter folgte dem Blick; da lagen allerlei kleine Andenken, wie man sie von einem frühverstorbenen Kinde verwahrt, Spielsachen, Schulhefte, Glückwünsche in steifer Schönschrift, auch ein Päckchen Briefe; abgegriffen, mit verblaßten Schriftzügen, zierlich mit bunter Seidenlitze zusammengebunden.

„Ich habe mich oft in meiner Verbitterung geschämt, daß ich das alles heimlich verwahrte,“ sagte sie leise. „Aber manchmal konnte ich nicht anders, ich mußte die Briefe immer wieder lesen, und die Puppen habe ich aus- und angezogen, wie ich es meiner Tochter vorthat, als sie noch ein kleines Mädchen war … Und so ein liebevolles kleines Mädchen! – Wie hätte ich damals denken können, daß sie sich je von meinem Herzen losreißen würde, um dem Manne zu folgen, vor dem ich sie warnte, weil ich ihn für einen leichtsinnigen und unfrommen Menschen hielt … Ach, lieber Herr Doktor, ich habe viel gelitten um sie, das dürfen Sie mir glauben … Wenn wir uns nur noch einmal gesehen hätten … wenn sie einmal mit dem Kleinen zu mir gekommen wäre, dann hätte ich mich wohl von meinem Groll bekehrt … Aber das wollte ja wohl der Mann nicht. Zuletzt gab sie es eben auf, ihre Briefe wurden seltener und blieben endlich ganz aus. Und als sie dann so früh gestorben war, da wurde der alte Groll gegen ihn erst recht stark und wild in mir. Wenn mir die Leute sagten, daß er ja doch ein ganz braver Mann geworden sei und in glücklicher Ehe mit ihr gelebt habe, so wollte ich es nicht glauben, und wenn sie von dem Kinde meiner Tochter sprachen, so wandte ich mich ab, denn es war ja sein Kind … Aber es war auch mein Enkelkind … und es glich ihr so, auf dem Bilde da … Ich hätte so gern für es gesorgt, wenn nur sein Vater nicht gewesen wäre. … Manchmal wurde ich ganz verwirrt, daß es mir in meiner Ungerechtigkeit war, als hätte er mich zweimal beraubt: erst meiner Tochter und dann ihres Ebenbildes. Und so ist das weiter gegangen, ein langes Jahr ums andere. Ich wußte gar nicht mehr, wo er jetzt wohnte. Bis vor drei Wochen – da treffe ich im Kreuzkonvent eine Fremde aus einer Stadt oben an der See, die Schwester eines der alten Fräulein, die da in Pflege sind, und die erzählt so ganz nebenbei von einem Herrn Flügge, den sie dort gekannt habe, und was der für ein prächtiger Mensch gewesen sei, ordentlich voll Andacht für seine verstorbene Frau und ganz nur Liebe zu seinem Töchterchen, für das er sich in schwerer Arbeit um kargen Lohn abmühte. Ich bezwinge mich und sage: wo wohnt der Herr denn jetzt? Da sagt sie: ach, der ist ja tot, voriges Jahr ist er gestorben, und seine Tochter ist jetzt Lehrerin irgendwo an einer Anstalt, sie muß eben für sich selber sorgen, so jung sie auch noch ist. Und da … wie ich da heim kam, habe ich gleich einen Brief angefangen an das Kind, es hat aber wohl acht Tage gedauert, bis ich damit zustande kam. Und dann habe ich gelauert und gelauert auf die Antwort und gedacht: es geschieht dir recht, wenn sie dir nie vergiebt. Bis auf einmal vorgestern die Antwort kommt: ein langer Brief, und ein so lieber! Wissen Sie, sie hat den meinen erst so spät bekommen, weil sie eine vornehme fremde Schülerin aus der Anstalt nach Hause begleiten mußte, irgendwo nach Belgien oder da herum; sonst hätte ich wohl gleich anderen Tages ihre Antwort bekommen, denn die Anstalt liegt kaum vier Meilen von hier, und ich war ihr so lange schon nahe und habe es nicht gewußt! Aber nun war es ein Glück, daß sie gerade Ferien hat; und heute kommt sie und will die Ferien bei mir bleiben. Ach, Herr Doktor, wir wollen es ihr recht schön machen!“

„Ja,“ sagte der Doktor Hans Ritter, drückte der alten Dame herzlich die Hand und ging nach seiner Bibliothek.

Beim Mittagessen traf er die beiden anderen in sehr aufgeregter Stimmung. Seine Anfrage, ob man am Nachmittag zusammen spazieren gehen wolle, wiesen sie mit einer gewissen Entrüstung ab. „Nein,“ sagte Doktor Bardolf, „ich habe genug zu thun, mein Zimmer aufzuräumen. Ich bitte dich, wenn eine junge Dame zu Besuch kommt!“

„Aber sie kommt doch nicht zu Besuch auf dein Zimmer,“ meinte Doktor Ritter.

„Sie könnte doch ’mal hineinsehen.“

„Jawohl,“ bestätigte Doktor Mohr, „und da will man doch mit nichts Anstoß erregen.“

„Und überhaupt muß man zum Empfang da sein,“ schloß Doktor Bardolf. „Hoffentlich habe ich noch ein paar reine Manschetten in der Kommode – sonst mußt du mir deinen Radiergummi leihen, Mohr.“

„Die Rosen habe ich schon bestellt,“ versetzte dieser.

Doktor Hans Ritter machte seinen Spaziergang allein. Unterwegs pflückte er einen großen Strauß Waldblumen.

Als er gegen Abend heimkam, überraschten ihn schon von fern Lichtschimmer und fröhliche Klänge aus der Wohnstube der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_011.jpg&oldid=- (Version vom 4.2.2017)