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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

den letzten steilen Hang die riesige Kalesche hinaufzog, um, vor dem Portale haltend, die hohe Frau zu erwarten, die mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ihre Spazierfahrt unternahm – dieser Viererzug schien unsterblich. Seit langen Jahren kannten die Breitenfelser die großen Schimmel, und es ging sogar ein dunkles Gerücht von ihnen, daß sie einstmals, vor grauen Zeiten, durchgegangen seien. Aber Bestimmtes wußte niemand, es war zu lange her.

Vor dem kunstvollen schmiedeeisernen Gitter droben ging eine Schildwache auf und ab; das war aber auch heute das einzige lebende Wesen hier herum, wenn man nicht des Herrn Oberförsters Teckel, die Lola und den Männe, dazu rechnen wollte, die sich im welken Kastanienlaub umherjagten. Geradezu spukhaft war es. Da auf einmal zitterte etwas durch die feuchte Herbstluft, eine Menschen-, eine Frauenstimme, ein glockenheller Sopran.

„O, du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,“ klang es aus dem trotz der Kühle geöffneten Wohnstubenfenster des Herrn Medizinalrat Doktor May, des vielgeliebten, aber auch vielgeplagten Leibarztes Ihrer Durchlaucht, ohne dessen Rat die hohe Frau keinen Tag leben konnte, dem sie, wie sie jedermann, der es hören wollte, erzählte, ihr Leben nicht ein-, sondern hundertmal verdankte, den sie sämtlichen Autoritäten seines Standes, und wären es die berühmtesten unter den berühmten, vorzog. Das May’sche Haus lag dem Schlosse gegenüber, seine Fenster blinzelten von unten herauf ehrerbietig zu ihm empor. Durchlaucht pflegte „ihrem lieben May“ des öfteren zu versichern, wie wohlthuend es ihr sei, den abendlichen Schein seiner Lampe heraufstrahlen zu sehen, wisse sie doch, daß dort ein treues Herz für sie denke und ihr Leben zu verlängern trachte, welches ihr, obgleich es eigentlich nichts bedeute als einen Kampf gegen den Egoismus ihres erlauchten Stiefsohnes, doch zur lieben Gewohnheit geworden sei.

Jedenfalls wollte sie noch nicht sterben, die hohe Dame, und so befolgte sie mit rührender Gewissenhaftigkeit die Vorschriften ihres ärztlichen Beraters. Der Herr Medizinalrat mußte natürlich jeden Augenblick gewärtig sein, auf das Schloß citiert zu werden; eine auswärtige Praxis konnte er infolgedessen nicht betreiben, und im Städtchen selbst waren noch vier Kollegen, die kaum ihr Brot fanden. Was aber das ärztliche Honorar für die Hilfleistung und täglichen Konsultationen am herzoglichen Hofe anlangte, so war es durchaus nicht verblüffend groß; Durchlaucht zahlten tausend Thaler jährlich für sich und den gesamten Hof, außerdem hatte ihr „lieber May“ freie Wohnung, so und so viel Klaftern Buchenholz, und endlich besaß er mehrere Orden des herzoglichen Hauses. Er war aber zufrieden damit, sagte sich, daß er als einfacher praktischer Arzt mehr als ein Paar Stiefel ablaufen müsse, um tausend Thaler zusammen zu bringen, schlug Wohnung und Holz über Gebühr hoch an und lebte schlecht und recht und glücklich mit seiner Frau, die vollständig die Ansicht ihres Eheherrn teilte. Die Söhne, von denen der eine Lieutenant in einem preußischen Artillerieregiment, der andere noch Student war, hätten freilich lieber gesehen, wenn ihnen ein reichlicherer Zuschuß aus der väterlichen Kasse geflossen wäre, indes, ein Schuft giebt mehr als er hat, erklärte der Medizinalrat. „Drückt euch durch, Jungens, ihr habt es ja nicht besser gewollt, habt eure Metiers selbst gewählt – mehr als zehn Thaler monatlich kann ich nicht hergeben; ihr habt ja noch den Zuschuß aus der Ruprecht-Stiftung.“

Am wenigsten ward Aenne von der bescheidenen Lage ihres Vaters angefochten. Sie vermißte nichts, bis jetzt jedenfalls noch nichts. Sie kannte nichts anderes, war nach alter guter Sitte erzogen, und nach der gehörten die Frauen und die Oefen in das Haus, ein Sprichwort, das der Herr Leibarzt des öfteren im Munde führte. Aenne war so jugendfrisch, so gesund an Seele und Leib, so befriedigt von ihren kleinen Pflichten, so beglückt von ihrem einzigen, durch mangelhaften Unterricht freilich nicht sehr geförderten Talent ihrer schönen Singstimme, daß sie mit niemand getauscht hätte; am wenigsten mit Fräulein Antonie von Ribbeneck, der jüngsten Hofdame Ihrer Durchlaucht, die in ihren dienstfreien Stunden, von trostloser Langweile geplagt, zuweilen ein Stündchen bei Mays vorsprach. Mays waren ja hoffähig in Breitenfels; zu jedem Theeabend wurden sie von Durchlaucht befohlen, und Aenne mußte singen vor dem wunderbar zusammengestellten Cercle im herzoglichen Musiksaal.

Auch für heut’ abend war sie huldvollst darum ersucht worden, und nun probte sie noch einmal ihre Lieder, eines besonders, zu dessen Vortrag sie sich erst eben entschlossen hatte, um mit ihm den heutigen Musikabend, den ersten der kommenden Saison, zu eröffnen.

Es mochte so ungefähr zehn Uhr morgens sein; Mutter May war unter Assistenz des Dienstmädchens Karoline, die eben sechzehn Lenze zählte, beim Zubereiten des Mittagsessens in der Küche, der Herr Medizinalrat saß in seiner Stube vor dem Cylinderbureau und schrieb. Die Frau Herzogin wünschte in einigen Zimmern neue Oefen, da die alten nicht genügend mehr heizten, und Se. Hoheit, der Regierende, hatte die Eingabe des Kammerherrn von Ellenberg nicht beantwortet, wohl in der Meinung, daß die hohe Stiefmama die gewünschte Verbesserung aus eigenen Mitteln bestreiten könne. Die Herzogin-Mutter aber bestand auf ihrem verbrieften und besiegelten Recht, demzufolge der Regierende gehalten war, ihren Witwensitz in wohnlichem Zustand zu erhalten, und alterierte sich sichtlich über den Rabensohn so, daß der Leibarzt sich ins Mittel zu legen für gut fand und von der Gefährlichkeit sothaner Oefen, die Kohlenoxydgase ausströmen lassen und somit die Gesundheit der hohen Dame zu gefährden ernstlich imstande seien, eine blühende Schilderung entwarf. Wenn Se. Hoheit auch hierauf nicht zeichnete, so gab er sich vor dem ganzen Lande das Ansehen eines lieblosen Stiefsohns.

Im Wohnzimmer, der Arbeitsstube des Rats gegenüber und von dieser nur durch den Flur getrennt, verhallten eben die letzten Töne. Aenne May stand vom Piano auf und klappte etwas geräuschvoll den Deckel des Instruments zu, so daß Tante Emilie aus dem leisen Schlummer, in den die süßen Töne sie gewiegt hatten, entsetzt aus der Sofaecke empor fuhr und schrie:

„Gott im Himmel, was bist du für ein Mädchen – man meint ja, ’s ist ein Erdbeben!“

Aenne May lachte, und unter diesem Lachen, bei dem Anblick dieser Frühlingserscheinung, an der alles lachte, schwand die verdrießliche Miene der alten Dame und sie sagte: „Wo willst hin, Goldköpfchen? Du ziehst ja die Handschuhe an?“

„Zur Generalprobe aufs Schloß, Tantchen. Leb’ wohl, setz’ dich gemütlich in deine Ecke und schlafe weiter – kannst’s ja haben! Auf Wiedersehen!“ Sie machte einen Knicks nach Art kleiner Mädchen und entschwand den entzückten Augen der alten Dame, um gleich darauf über den Schloßplatz der schmiedeeisernen Pforte des herzoglichen Parkes zuzugehen.

Aenne May hatte eine schlanke, im schönsten Ebenmaß gebaute Gestalt, blondes Haar, duftig und lose, das aussah, als wäre es leicht mit Asche überstäubt; dazu den zartesten Teint und glänzende bräunliche Augen, die jedermann groß und offen anzuschauen pflegten, vertrauende Augen, denen man es anmerkte, daß sie in ihrem jungen Dasein noch nichts Häßliches erblickt, noch keine Thräne der Enttäuschung zu weinen gebraucht hatten. Manchmal war es, als spielten Goldfünkchen in ihnen, gleich den lustigen Gedanken, die hinter der Stirn sich jagten; und so war es meistens, es gab kein fröhlicheres Mädchen wie Aenne May, ihr Gekicher hörte man zu allen Zeiten und die Mutter schüttelte des öftern den Kopf, wenn sie eine Neckerei verübt hatte, und pflegte zu versichern: „Das Lachen wird dir schon noch vergehen.“

Jetzt aber war es noch nicht so weit, und das feine Näschen schnupperte noch beständig in der Luft umher, ob es nicht etwas zu lachen gab für den Mund, hinter dessen roten Lippen so gern die prächtigen Zähne hervorlugten.

Sie war mittlerweile bis an die Gartenpforte gekommen, ohne zu gewahren, daß vom Fenster der Oberförsterei ein paar Männeraugen ihr folgten. Aber sie mußten keine Macht über sie haben, diese Blicke; sie sah sich nicht um, sondern ging jetzt innerhalb des Parkes langsam einen Seitenpfad empor, der auf die sogenannte Südterrasse und von da in den Schloßhof führte. Oben blieb sie an dem steinernen Geländer stehen und schaute in die Ebene hinein, die im Scheine einer blassen Herbstsonne vor ihr lag, so weit, ach so weit! Dann spazierte sie, wie die Schulkinder thun, in dem welken raschelnden Laub mit möglichst wenig aufgehobenen Füßen weiter und um die große Fontäne herum, auf deren ruhigem Spiegel die gelben Blätter der Linden schwammen, die im Kreise um sie her standen.

Die heisere Uhr des alten Schloßkirchturmes schlug just halb, und bei diesem Klange blieb Aenne May stehen; sie hatte ja noch Zeit, eine halbe Stunde lang. Sie wandte sich und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_002.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)