Seite:Die Gartenlaube (1896) 0878.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (Schluß.)


Es war zwölf Uhr geworden, ehe der klirrende Schlüssel in der Flurthür der Geheimrätin die Rückkehr ihres Gatten anzeigte. So spät kam er sonst nie aus dem Kasino und sie war die ganze Zeit in größter Unruhe im Zimmer auf und nieder gegangen, denn die Erregung, in welche Lisbeths Mitteilung über ihre Verlobung mit dem jungen Römer sie versetzt hatte, ließ sie nicht einschlafen, und so wollte sie lieber den Gatten erwarten, um sich gleich mit ihm über die zu treffenden Maßregeln zu verständigen. Zu ihrem Erstaunen zeigte er gar keine Verwunderung, sie noch wach zu finden, und auf seinem Gesicht lag ein so freudiger Ernst, daß sie sofort eine angenehme Mitteilung mutmaßte.

„Ich bin schon vor länger als einer Stunde heimgekommen,“ sagte er, als er Hut und Stock abgelegt hatte und sich nun auf das Sofa niederließ, „aber der Zufall wollte es, daß ich den jungen Römer traf, und mit diesem bin ich dann die ganze Zeit auf und ab spaziert.“ Er sah seine Frau forschend an: „Nun, Käthchen, hat Dir Lisbeth nichts Neues erzählt?“

„Ja, Erich, und deshalb erwarte ich Dich noch jetzt in der Nacht. Die alte Geschichte lebt wieder auf! Du siehst, ich hatte recht, wenn ich mich gegen die Freundschaft mit Römers stets so ablehnend verhielt. Nun stehen uns wieder neue Kämpfe bevor, und was werden wir durchzumachen haben, bis wir Gehorsam und Fügsamkeit erringen!“

„Aber warum denn?“ fragte er ganz erstaunt und sah sie lächelnd an, „ich verstehe Dich offenbar gar nicht.“

Sie zuckte die Achseln und wandte sich gekränkt ab.

„Du bist in heiterer Stimmung, Mann, darum kommt Dir auch dies heiter vor. Wenn Du morgen die Angelegenheit der Ueberlegung unterziehst, wirst Du anders darüber denken!“

„Mein Himmel,“ sagte er mit einem Anflug von Ungeduld, „wir scheinen uns in der That nicht zu verstehen! Was meinst Du eigentlich? Ich glaubte, Lisbeth sei mir mit der Mitteilung zuvorgekommen, indessen wollte sie wohl, Du solltest es aus meinem Munde hören. – Eben hat also der junge Römer bei mir um ihre Hand angehalten! – Eine wunderliche Stunde für eine offizielle Werbung, nicht wahr? Aber es hatte auch seinen Grund. Er begleitete nämlich Lisbeth von seinen Eltern nach Hause, sie gingen Arm in Arm, und als sie sich voneinander verabschiedet hatten – was sehr herzlich geschah und Lisbeth ins Haus gegangen war, stand er, sich umwendend, mir gegenüber, der ich unabsichtlich Zeuge dieser Liebesscene geworden war. Natürlich hielt er es nun für nötig, mir sofort die Sachlage zu erklären und sich gleich meiner Zustimmung zu versichern.“

„Deiner Zustimmung, Erich?!“

„Nun, doch auch der Deinen, Frauchen! Er bat eben um unseren elterlichen Segen und wird morgen vormittag herkommen, um Dir selbst diese Bitte vorzutragen.“

Die Frau Geheimrätin verstand immer noch nicht.

„Was soll das nur? Wozu dieses lange Hinziehen der Entscheidung? Du hättest mit zwei Worten der ganzen Sache ein Ende machen müssen. Wir kennen den Menschen ja gar nicht.“

„Ja, das ist dann Deine Schuld, liebe Frau, wenn Du ihn nicht kennst! Unsere Tochter ist täglich im Hause seiner Eltern gewesen - eine Mutter sollte denn doch darin ihre Pflicht erkennen, einer Familie näher zu treten, die ihrem Kinde so viel Freundschaft erweist.“

Ein vorwurfsvoller Blick traf ihn.

„Ich bitte Dich, Erich, diese Vorstellungen sind wirklich ganz ungerecht! Ich will von den Leuten doch nichts! Und in welcher Weise konnte man sich wohl für die Lisbeth entgegengebrachte, mir übrigens unendlich unangenehme Gastfreundschaft revanchieren? Den Sohn der Römers habe ich ja auch wiederholt zu unseren Bällen – damals, als er Student war - eingeladen; später freilich verstand es sich von selbst, daß das aufhören mußte!

In unsere Kreise paßt doch ganz gewiß nicht ein Postschreiber.“

„Postschreiber?!“ wiederholte er und sah sie ganz verblüfft an. „Postschreiber nennst Du einen studierten Beamten, der die höhere Postcarriere macht? aber Frau, das finde ich wirklich stark!“

„Nun, was ist denn sonst dieser Herr Römer, um dessentwillen Du sogar die Höflichkeit gegen Deine Frau vergißt? Lisbeth selbst wußte es nicht zu sagen!“

Er trat schnell zu ihr heran.

„Aber, Frauchen, werd’ nicht böse, Du weißt ja, wie’s gemeint ist! Ich ärgerte mich wirklich über Deinen absprechenden Ton. Denke Dir, wenn Giersbachs so mit unserem Leo gerechnet hätten, und dieser Fall ist in der That nicht zu vergleichen. Arnold Römer geht also jetzt als Postrat nach Breslau, nur ganz vorübergehend, die nächste etatsmäßige Vakanz im Reichspostamt führt ihn wieder nach Berlin an eine bedeutende Stelle in der Direktion - - und dabei ist der ganze Mensch vierunddreißig Jahr alt! Du mußt zugeben, der hat in Wahrheit glänzende Aussichten.“

Seine Frau hatte ihn sehr überrascht und betroffen angesehen. Nun sagte sie, während eine lebhafte Röte in ihr Gesicht stieg:

„An den Mißverständnissen ist nur Lisbeth schuld. Das Mädchen faßt, sobald es sich um Römers handelt, die einfachste Frage als Beleidigung auf. Ich bin außer stande, dieses ,in den Wolken schweben’ zu begreifen; ich erkundigte mich, welchen Titel jetzt Römer führt – er wechselt ja ewig damit– und sie sagte mir darauf, das wüßte sie nicht – danach hätte sie ihn nicht gefragt! Nun bitte ich Dich von einem Menschen, den sie heiraten will, weiß sie nicht einmal das wichtigste!“

„Ihr erscheinen wohl seine äußeren Verhältnisse nicht als das wichtigste, sondern ihre innere Zusammengehörigkeit mit ihm. Doch genug davon! Mir imponiert dieser junge Mann ebenso sehr durch seinen Charakter wie durch seine Erfolge, und da die beiden so heiß ihren gegenseitigen Besitz anstreben, so würden wir – hörst Du, Frauchen – auch nichts dagegen haben können, wenn seine Position weniger günstig wäre, sondern uns nur freuen, unsere liebe älteste Tochter glücklich zu sehen! Wir wissen es ja leider, daß auch eine sogenannte gute Partie nicht allemal ein Glück ist, vielleicht wird uns hier Ersatz für andere zerstörte Hoffnungen.“

Die Frau Geheimrätin hielt es für gut, die letzte Betrachtung zu überhören. „Ich verstand Lisbeth so, als ob sie beide ein Bekanntwerden der Verlobung vorläufig nicht wünschten. Mir ist das auch sehr recht. Mit den Anzeigen – da er schon Rat ist – ginge es wohl, aber wenn ich mündlich der Excellenz die Nachricht bringe, kann ich doch auch von seinem demnächstigen Avancement etwas einfließen lassen, und das ist mir doch lieber, denn von der Postcarriere weiß in unseren Kreisen niemand etwas.“

„Meinetwegen,“ sagte der Geheimrat etwas kürzer als es sonst seine Art war, „ich hindere Dich in Deinem Willen nicht, aber morgen störe Du mir durch solche praktischen Erwägungen nicht den ersten Brauttag der beiden! Man muß die Eigentümlichkeiten der Menschen schonen! Lisbeth steht längst auf dem Standpunkt, den ja jetzt auch Leo einhält, ich meine, den einer gewissen Verachtung alles nur Aeußerlichen. Ich weiß, Du denkst anders darüber, aber ich möchte nicht, daß Römer oder Lisbeth durch den Unterschied Deiner Ansichten mit den ihrigen verletzt würde. Wozu nützte das auch? Du änderst damit doch nichts!“

„Nein, das fühle ich auch,“ sagte die Frau Geheimrätin und sah anklagend gen Himmel. „Und das sind meine Kinder!“


17.

Dem Sommer war der Winter gefolgt und bei Brückners war das Haus nun leer. Auch das letzte ihrer Kinder war hinausgezogen, um im eigenen Heim zu walten und zu schalten, und wenn nicht diese glückatmenden Briefe die Eltern etwas entschädigt hätten, dann wäre es ihnen in ihrer schönen Häuslichkeit, in der früher so viel heitere Geselligkeit geherrscht hatte, recht einsam geworden. Im Grunde fühlten sie es auch jetzt so und waren bemüht, es voreinander zu verbergen, wie sehr sie darunter litten. Der Geheimrat sagte immer häufiger: das wäre so die Natur der Sache und der Lauf des Lebens – „wenn die Vöglein flügge sind, verlassen sie das elterliche Nest und bauen das eigene“ – und mühte sich, durch diese natürliche Vorstellung seine Gefühle in die richtigen Bahnen zu leiten. Die Frau Geheimrätin hielt es gar nicht recht im Hause, seit sie Lisbeths stilles Walten nicht mehr um sich fühlte.

Wenn ihr Mann im Bureau und sie allein in den weiten Räumen war, erfaßte sie eine ordentliche Angst, und sie warf sich mehr als je den Wohlthätigkeitsbestrebungen in die Arme, ohne doch durch die Gesellschaft der Excellenz und anderer hochgestellten Damen über die Unruhe in ihrem Inneren hinwegzukommen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0878.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2023)