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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Furcht vor Entzündung und Vereiterung des Auges bei einer solchen Operation hielt daher bis zum Jahre 1858 alle Operateure von derselben fern. Da erst berichtete Adolf Weber aus Darmstadt auf der Heidelberger augenärztlichen Versammlung, daß er hochgradig Kurzsichtigen wiederholt die Linse, und zwar die durchsichtige Linse, herausgenommen und ihnen die Arbeitsfähigkeit wiedergegeben hätte, ohne daß nachteilige Folgen entstanden seien. Auch Professor Mooren in Düsseldorf hatte zur selben Zeit schon einige Fälle operiert und die Methode empfohlen. Aber die damaligen ersten Meister des Fachs erklärten sich gegen die Operation.

Der große Graefe meinte, das weitere Fortschreiten der Kurzsichtigkeit könne doch nicht dadurch aufgehalten werden und innere Entzündung sei bei der Operation zu erwarten; auch der ausgezeichnete Operateur Arlt war dagegen.

Donders, der hervorragende Physiologe in Utrecht, nannte die Operation sogar „eine strafbare Vermessenheit“, weil man den Kurzsichtigen nicht seiner Accomodation berauben dürfte, und weil ja doch dem Auge kein wesentlicher Vorteil erwachsen würde. Er erzählte sogar, daß ihn ein Patient zu der Operation „zu verleiten“ gesucht habe. Er stützte sich auf lauter theoretische Bedenken, hatte aber keinerlei praktische Erfahrungen.

Jetzt nach 40 Jahren erfahren wir aus der inhaltsreichen soeben erschienenen Schrift von Professor Mooren „über die medizinische und operative Behandlung kurzsichtiger Störungen“, daß Albrecht von Graefe bei seiner letzten Begegnung mit Mooren über Donders gesagt: „Ja, ja, dieser große Mann mußte bei der Physiologie bleiben. Auf diesem Felde lag seine Bedeutung. Das Augenoperieren konnte er uns kleinen Leuten überlassen, wir verstehen das eben besser.“

Gerade der Einfluß von Donders hat 30 Jahre lang die Augenärzte von der Operation zurückgehalten. Nur der vor kurzem in Wien verstorbene Professor Mauthner sagte im Gegensatz zu der großen Autorität von Donders schon vor 20 Jahren sehr richtig:

„Wüßte ich eine Staroperation, die ungefährlich wäre, so würde ich sie unbedingt allen höchstgradig Kurzsichtigen empfehlen, da sie dann sowohl in die Ferne wie in die Nähe weit besser daran wären.“

Da aber damals die Operationen noch immer gefahrvoll und schmerzhaft waren, so wagte sich eben kein Arzt an sie.

Nun war im Jahre 1884 das Kokain von Koller entdeckt worden, jenes unschätzbare Mittel, von dem einige Tropfen genügen, um das Auge für die größte Operation unempfindlich zu machen. (Vergl. meinen Aufsatz über das Kokain in der „Gartenlaube“ 1885, S. 67.) Das gefährliche und vielfach die Operationen störende Chloroform brauchen wir seitdem nicht mehr.

Zudem war eine Umwälzung in der ganzen Chirurgie durch die Antiseptica, Karbol und Sublimat, entstanden; die peinlichste Auskochung der Instrumente, die Reinigung der Hände des Operateurs und der Augen des Kranken vor der Operation schützen fast völlig vor Eiterung des Auges. Während vor 40 Jahren noch 25% der Staroperationen durch Vereiterung zu Grunde gingen, war die Zahl allerdings vor 20 Jahren schon auf 5% gesunken; jetzt beträgt sie kaum 1 aufs Hundert. Es ist eigentlich wunderbar, daß unter diesen Verhältnissen niemand mehr an jene wichtige Operation dachte.

Da nahm ein junger, bis dahin unbekannter Augenarzt in Pilsen, Dr. Fukala, jetzt in Wien, trotz aller Warnungen der alten Meister die Frage praktisch im Jahre 1888 auf und teilte seine ersten ausgezeichneten Resultate im Jahre 1890 mit.

Er sagte ganz richtig „Probieren geht über Studieren“ und kämpfte mit großer Energie für seine Operationsmethode auf den augenärztlichen Kongressen in Heidelberg und Edinburg, unbekümmert um die Zweifel, welche von vielen Seiten anfangs gegen die optischen Erfolge geäußert wurden. Heute erkennen wohl alle erfahrenen deutschen Operateure an, daß er sich ein ungeheures Verdienst erworben hat; mit Recht verdient er den größten Dank und die größte Anerkennung, da seine Operation ganz sicher und gefahrlos ist.

Ich bekenne offen, daß ich, obgleich ich seit über 30 Jahren eine außerordentlich große Menge hochgradig Kurzsichtiger zu behandeln habe, mich erst sehr spät entschloß, Fukalas Methode zu versuchen.

Auch ich stand zu sehr unter dem Einfluß meiner großen Lehrer Graefe, Donders und Arlt. Erst als ich einige Fälle gesehen, welche Mooren in Düsseldorf glänzend operiert hatte, wurde ich von meinem Vorurteil befreit, und ich bin glücklich, daß ich die Methode Fukalas angenommen habe; denn die Resultate sind die allerschönsten.

Worin besteht nun der Fortschritt, den wir Fukala verdanken? Er versuchte nicht, die durchsichtige Linse herauszunehmen, sondern er machte sie künstlich undurchsichtig, trübe; er verwandelte sie künstlich in einen grauen Star.

Man weiß seit langen Zeiten, daß, wenn jemand sich mit einer Nadel in die Linse sticht, die durchsichtige Linse sich trübt, grauen Star bekommt, und man benutzt daher schon seit Jahrhunderten eine Nadel, um gewisse langsam fortschreitende Starformen, d. h. unvollkommen getrübte Linsen, durch einen Einstich in die Linse schneller zur Reife zu bringen. Allein die gesunde, durchsichtige Linse hat man vor Fukala nicht getrübt. Er aber trübte sie durch einen Nadelstich, das ist die Voroperation, reifte künstlich dadurch die Linse, und dann nach einigen Wochen nahm er die getrübte Linse aus dem Auge mit Leichtigkeit heraus. –

Wir müssen nun zunächst fragen: Wie sieht denn ein Kurzsichtiger, dem die Linse herausgenommen ist, in die Ferne? Wir haben es schon oben in Figur 15 gezeichnet. Er braucht nunmehr für die Ferne kein Glas mehr. Die Strahlen vereinigen sich jetzt auf der Netzhaut, wenn die Kurzsichtigkeit ungefähr der Nummer 12 bis 14 entsprach. War die Kurzsichtigkeit noch höher, so daß Gläser Nummer 15 bis 20 etwa gebraucht werden mußten, so wird er noch ein Konkavglas für die Ferne haben müssen, aber ein ganz schwaches, das er ohne Verkleinerung benutzen kann; oder aber die Kurzsichtigkeit war geringer als 12 bis 14; hatte er z. B. nur vorher konkav 10. gebraucht, so braucht er nun für die Ferne ein Konvexglas, aber auch nur ein schwaches, welches er ohne Beschwerden tragen kann.

Anders liegt die weitere Frage: Wie sieht er nun in die Nähe? Er hat ja die Accomodation vollkommen verloren, die Linse fehlt ihm doch. Rein theoretisch betrachtet, müßte er jetzt für jede Entfernung, in die er blickt, eine andere konvexe Brille haben. Aber so liegen die Dinge glücklicherweise nicht.

Wie die Blinden bekanntlich einen äußerst feinen Tastsinn haben, so haben die hochgradig Kurzsichtigen eine unglaubliche Uebung, ihre Zerstreuungskreise zu entziffern, sie, wie man sagt, zu verarbeiten. Nach der Operation sind nun aber die Zerstreuungskreise sehr klein.

Es tritt auf diese Weise ein Ersatz für die Accomodation, die ihnen fehlt, ein, der gegen früher noch besser für sie ist. Denn wenn jemand vorher so kurzsichtig war, daß er nur noch bis 5 cm in die Ferne sah, so konnte er wohl auch durch die Accomodation noch bis 4 cm sehen; aber was hatte er von diesem Centimeter für Nutzen in solcher Nähe? Jetzt, nachdem seine Linse herausgenommen, sieht er in einer viel größeren Strecke scharf. Es sind Fälle beobachtet, wo solche Geheilte ohne Glas auf 35 bis 60 cm lasen; braucht er aber eine Brille, so sucht man sie für eine Entfernung von 30 cm aus, und mit dieser sieht er nicht bloß auf 30 cm, sondern in sehr geringen Zerstreuungskreisen noch ein bedeutendes Stück vor und hinter dieser Entfernung mit Leichtigkeit. Er hat trotzdem keine Accommodation mehr, erhöht also beim Nahesehen nicht den Druck in seinem Auge.

Dazu kommt, daß er nun seine Convergenz auch nicht anzustrengen braucht. Da er nicht mehr in so großer Nähe lesen kann, muß er eben das Buch weiter forthalten; er braucht die inneren geraden Augenmuskeln also gar nicht zusammenzuziehen; er braucht nicht stark zu konvergieren. Es wird also im Innern des Auges kein großer Druck entstehen und die Ausdehnung der Augenhäute nicht weiter fortschreiten.

Ebensowenig wird eine Stauung in den Blutadern eintreten, da er ja den Kopf nicht mehr auf die Schrift aufzulegen braucht. Er kaun also jetzt ganz ohne oder nur mit schwachen Konvexgläsern ohne Accommodation, ohne Convergenz und ohne Kopfsenkung lesen. –

Zu allen diesen Vorteilen kam einer, auf den man gar nicht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0870.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2023)