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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Sehen in die Nähe untrennbar sind; das ist die Accommodation und die Convergenz der Augen.

Die Accommodation ist die wunderbare Eigenschaft, die den Augen ermöglicht, nicht bloß ferne Gegenstände zu sehen, sondern sich auch für die Nähe einrichten zu können, sich den verschiedenen Entfernungen anzupassen, zu accommodieren. An unseren Operngläsern können wir das nur erreichen, indem wir eine Schraube bewegen; nur dann können wir statt der Personen auf der Bühne die Personen in unserer Nähe deutlich erkennen.

Fig. 7.

Eine der Schraube ähnliche Einrichtung hat die Natur am Auge nicht angebracht; sie hat vielmehr einen merkwürdigen, einzig dastehenden Weg eingeschlagen, den keine Kunst bisher nachahmen konnte. Sie hat uns eine Krystalllinse gegeben, die wachsweich ist und daher durch einen Muskelzug im Innern des Auges ihre Gestalt aus einer dünnen Linse in eine dicke verwandeln kann. Beim Fernsehen hat die Linse die geringe Dicke a b (Fig. 7), beim Nahesehen die größere Dicke a1 b1, wie sie mit punktierten Linien in Figur 7 schematisch angedeutet ist.

Der Muskel, der die Linse stärker krümmt, ist in einer sehr komplizierten Weise im Auge mit der Linse verbunden; er heißt der Accommodationsmuskel und ist in der Figur 8 gezeichnet. Ohne Modell läßt sich seine Wirkung sehr schwer schildern. In dem Modell, welches ich konstruiert habe[1], lassen sich mit Leichtigkeit durch die Senkung eines Hebelarmes alle die zusammengesetzten Veränderungen, die bei der Accommodation im Auge vor sich gehen, deutlich machen.

Fig. 8.

Für uns genügt es hier, zu betonen, daß nur durch Zusammenziehung eines von der Hornhaut nach der Aderhaut gehenden, die Aderhaut spannenden Muskels die Krystalllinse aus ihrer flachen Form in die dickere übergeführt werden kann. Und dies geschieht jeden Augenblick beim Sehen in die Nähe, und dabei wird der Druck im Auge erhöht.

Ferner werden die Augen gedrückt, indem sie beim Nahesehen convergieren. Wenn wir in die Ferne sehen, so stehen die Augen parallel; wenn wir aber jemand einen Finger fest ansehen lassen und diesen seinem Auge immer näher bringen, so merken wir, daß beide Augen sich nach der Nase drehen, convergieren.

Es giebt nun an jedem Augapfel an dessen innerer Seite einen Muskel, der aus der Tiefe der Augenhöhle kommt und sich vorn in der Nähe der Hornhaut ansetzt (Fig. 9). Wenn er sich zusammenzieht, dreht er das Auge nach der Nase. Er heißt der innere gerade Augenmuskel. Ihm entgegengesetzt wirkt auf der äußeren Seite des Auges ein anderer Muskel, der das Auge nach der Schläfe dreht, der äußere gerade Augenmuskel. Die beiden inneren geraden Augenmuskeln müssen nun den ganzen Tag sich zusammenziehen, wenn in der Nähe gearbeitet wird, damit die Convergenz der Augen erreicht wird.

Fig. 9.

Indem sie sich zusammenziehen, werden ihre Gegner, die äußeren Muskeln, um so stärker und ausdauernder ausgedehnt und belasten die äußere Seite des Augapfels mit größerem Drucke. Es tritt also eine Abplattung des ursprünglich kugelrunden Augapfels ein, und der Druck wird im Innern erhöht. So entsteht also ebenfalls Wachstum in die Länge. –

Ferner verursacht auch Senkung des Kopfes, wie sie beim Auflegen auf die Arbeit so häufig vorkommt, Stauung des Blutes in den Blutadern des Auges und bewirkt also gleichfalls Zunahme des Druckes und daher Zunahme der Myopie.

Alle unsere bisherigen Bestrebungen waren nun darauf gerichtet, die erhöhte Accommodation und Convergenz der Augen und die Senkung des Kopfes auszuschalten, um das Auge nicht in den Langbau hineintreiben zu lassen, sondern seine Achse normal zu halten, also keine Myopie entstehen, vornehmlich aber schon vorhandene Kurzsichtigkeit sich nicht vergrößern zu lassen.

Man suchte also zunächst die Nahearbeit zu verringern, um Accommodation und Convergenz weniger anzustrengen. Alle unsere jahrzehntelangen Bemühungen, unsere Schulen und Arbeitsplätze besser zu beleuchten, sind auf dieser Basis gegründet. Je heller nämlich ein Gegenstand beleuchtet ist, desto weniger brauchen wir uns auf ihn zu legen, um ihn genau zu erkennen. Durch vernünftig konstruierte Schultische suchten wir seit 30 Jahren den Kindern Gelegenheit zu geben, längere Zeit gerade sitzen zu können, damit sie nicht wie früher durch die falsche und sinnlose Konstruktion der alten Schultische gezwungen würden, sich vorn überzubeugen. Darum suchen wir die Steilschrift in den Schulen einzuführen, weil bei dieser erfahrungsgemäß das Kind länger gerade sitzen kann als bei der Schrägschrift. Darum bemühen wir uns, den Druck der Schulbücher zu verbessern und die Kinder nicht durch die wahnsinnig kleine Schrift zur Accommodation und Convergenz zu zwingen.

Ich will gar nicht von der verfehlten Idee sprechen, die vor 50 Jahren verteidigt wurde, daß die Kurzsichtigkeit nur eine Angewohnheit sei, die man durch immer größeres Entfernen naher Gegenstände vom Auge bessern und abgewöhnen könne. Für solche Zwecke hatte Berthold das Myopodiorthoticon konstruiert, einen orthopädischen Apparat, der täglich den Kopf auf eine größere Distanz vom Buche brachte, welcher aber wie alle Geradehalter und Marterinstrumente die Kinder peinigte, ohne auch nur eine Spur der bereits vorhandenen Kurzsichtigkeit bessern zu können.

Man versuchte auch die geraden Muskeln der Augen, die das Auge nach innen ziehen, zu durchschneiden; aber das war ganz erfolglos.

Fig. 10.

Eine andere Idee war die, daß die Hornhaut bei den Kurzsichtigen zu stark gewölbt sei, so daß die Strahlen vor die Netzhaut fallen müßten. Darum band der berühmte Physiologe Purkinje in Breslau, der selbst kurzsichtig war, sich in der Nacht Säckchen, die mit Eisenfeilspänen gefüllt waren, auf sein Auge und glaubte dadurch seine Hornhaut abflachen zu können; natürlich war das auch ohne Erfolg. –

Eine der wichtigsten Behandlungs- und Vorbeugungsweisen waren natürlich die Brillen. Gewiß, sie leisteten und leisten Großes.

Man unterscheidet bekanntlich konvexe, wie die Objektive bei der photographischen Camera oder bei den Operngläsern gewölbt gestaltete, sogenannte Brenngläser, und konkave, hohle Gläser.

Die konkaven Gläser (Fig. 10) zerstreuen das Licht, welches aus der Ferne kommt so, daß es aus der Nähe zu kommen scheint. Strahlen, welche aus großer Ferne (A) kommen, treten hinter dem Glase so auseinander, werden so zerstreut, daß sie aus einem Punkte vor dem Glase, a, zu kommen scheinen.

Fig. 11.

Ein kurzsichtiges Auge kann bekanntlich in der Nähe gut sehen; durch ein Konkavglas werden nun Strahlen, welche aus großer Ferne kommen, so vor seinem Auge auseinander gebrochen, als kämen sie aus der Nähe. Die Lichtstrahlen, die aus großer Ferne A auf sein Auge fallen (Fig. 11), werden durch die Konkavlinse so auseinander gebrochen, daß sie nach c d und e f gehen. Wenn man diese Strahlen rückwärts verlängert, so schneiden sie sich in a; sie scheinen also dem Auge aus a zu kommen, werden daher auf der Netzhaut in b vereinigt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 867. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0867.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2023)
  1. Zu beziehen in größerer und kleinerer Ausführung von Optikus Heidrich in Breslau, Schweidnitzerstraße 27. Das Modell ist auch im Hygieinischen Museum und in der Urania in Berlin ausgestellt.