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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

des Rates, in dessen eigenem Hause er ohne weiteres und ohne Anfrage Platz nehmen und sein Schöpplein trinken durfte wie jedes andere Menschenkind auch. Und im Hamburger Ratskeller gab es jederzeit einen vertrauenswürdigen Stoff.“

„Nach einem solchen steht nunmehr auch mein Verlangen,“ bemerkte darauf lächelnd der Freund. Bald perlte ein köstliches Naß in unsern Gläsern, und wir ließen sie klingen auf das Blühen und Gedeihen der alten Freien und Hansestadt.


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Ueber operative Heilung der Kurzsichtigkeit.

Von Prof. Dr. Hermann Cohn in Breslau.

Die populäre Medizin soll sich nur auf Hygieine, auf Diätetik und auf Vorbeugung von Krankheiten beschränken; die Belehrung über Heilmethoden jedoch soll den ärztlichen Zeitschriften überlassen bleiben.“

Diesen gewiß richtigen Grundsatz habe ich bei meinen im Laufe von mehr als 30 Jahren veröffentlichten gemeinverständlichen Aufsätzen und Vorträgen stets befolgt.

Wenn ich heute zum erstenmal davon abweiche und einem großen Leserkreise Mitteilungen über „Heilungen“ mache und noch obendrein über „operative Heilung“ eines so außerordentlich verbreiteten Leidens, wie es die Kurzsichtigkeit ist, so hat dies einen ganz besonderen Grund.

Wenn die operative Heilkunst einen wirklich ungeheuren Fortschritt gemacht hat, so darf man meiner Ansicht nach nicht zögern, auch das große Publikum davon in Kenntnis zu setzen, weil man dadurch bald viele Leidende einer glücklicheren Zukunft entgegenführen kann. Und die Frage muß alle Eltern und Erzieher ebenso wie die Aerzte interessieren, da es ja fast keine Familie mehr ohne kurzsichtige Mitglieder giebt.

Ein solcher Fortschritt ist nun in der Augenheilkunde sichergestellt; was noch bis vor wenigen Jahren unmöglich schien, ist gelungen; man kann die hochgradig kurzsichtigen Menschen normalsichtig machen.

Fig. 1.

Freilich sind die Vorgänge, um welche es sich dabei handelt, keinesfalls ganz leicht ohne Modelle und Apparate populär darzustellen; ich muß daher die Leser bitten, wenn sie das Wesen der neuen Heilung der Kurzsichtigkeit verstehen wollen, mir erst aufmerksam durch eine Reihe anatomischer und physiologischer Vorbemerkungen zu folgen.

Heutzutage, wo fast in jeder Familie ein kleiner photographischer Apparat existiert, kann man leicht folgende Versuche machen.

Die beiden wesentlichsten Teile einer photograpischen Camera sind bekanntlich erstens das Objektiv oder die Sammellinse (Figur 1), ein auf beiden Seiten erhaben gekrümmtes, linsenförmiges Glas, ein Brennglas, welches die Lichtstrahlen bricht und zu einem Bilde vereinigt, und zweitens eine matte Scheibe S, auf welcher das Bild aufgefangen wird.

Stellt man die matte Scheibe S in die richtige Entfernung von der Linse, in die sogenannte Brennweite, so entsteht von einem sehr fernen Lichtpunkte A auf der matten Scheibe ein scharfes Bild dieses Lichtpunktes B. Schiebt man aber die matte Scheibe weiter nach hinten hinaus, nach S1, verlängert man also die Camera, so entsteht statt des scharfen Bildes, statt des Punktes B, ein Lichtkreis, ein sogenannter Zerstreuungskreis m n, der immer größer und matter und verschwommener wird, je weiter die matte Scheibe hinausgeschoben wird. Derselbe würde bei der Stellung S2 den Durchmesser o p haben.

Fig. 2.

Auf der matten Scbeibe würden also auch von zwei fernen untereinander stehenden Lichtpunkten zwei scharfe Bildpunkte H1 H2 (Figur 2) entstehen, wenn die Linse in richtiger Entfernung von der matten Scheibe (Figur 1 S) sich befindet; zieht man aber die matte Scheibe ein wenig weiter hinaus nach S1, so werden statt dieser scharfen, getrennten Bildpunkte zwei kleine, matte Zerstreuungskreise H3 H4 entstehen, so daß allerdings noch immer zwei getrennte Punkte erscheinen, die freilich unscharf sind, die sich aber noch nicht decken. Wird die Scheibe aber noch weiter hinausgezogen nach S2, so werden die Zerstreuungskreise noch größer und unschärfer und decken sich zum Teil, sodaß man nicht mehr zwei getrennte, sondern einen großen verschwommenen Punkt sieht, H5 H6.

Fig. 3.

Eine Linie kann man sich bekanntlich zusammengesetzt denken aus unendlich vielen, aneinander gereihten Punkten. Wenn jeder derselben als Zerstreuungskreis erscheint, so decken sich alle diese Kreise zum Teil, und es entsteht dann (Figur 2) statt einer scharfen Linie R eine Reihe von Zerstreuungskreisen R1, also ein breites undeutliches Band R2.

Das Auge ist nun bekanntlich ganz ähnlich der photographischen Camera gebaut. Die wesentlichsten lichtbrechenden Teile sind aber nicht allein eine Linse (siehe Durchschnitt des Auges, Figur 3), sondern auch eine den Augapfel vorn abschließende, uhrglasförmige, durchsichtige Haut, die Hornhaut. Diese und die Linse erzeugen gemeinsam ein Bild auf der lichtempfindenden Haut, der Netzhaut, die im Auge die Stelle der matten Scheibe vertritt. Sie befindet sich ganz hinten im Auge, ist gewissermaßen eine Ausbreitung der Sehnerven und ist sehr kompliziert gebaut.

Ist die Achse des Auges von vorn nach hinten (Figur 3) 23 mm lang, so nennt man das Auge normal gebaut (emmetropisch); denn dann werden von fernen Gegenständen deutliche Bilder auf der Netzhaut entworfen; ein ferner Punkt A (Figur 3) erscheint als deutlicher Punkt B, wird also deutlich wahrgenommen. Ist die Achse des Auges aber länger, z. B. 27 mm, so entsteht von einem fernen Punkte kein deutlicher Punkt, sondern ein Zerstreuungskreis auf der Netzhaut (m n in Figur 4), und ist die Achse noch länger, z. B. 33 mm, so wird dieser Kreis immer verschwommener und undeutlicher (o p in Figur 4). Genug, je länger die Augenachse wird, um so unschärfer muß in die Ferne gesehen werden. Solche zu lang gebaute Augen heißen kurzsichtige.

Fig. 4.

Die Kurzsichtigen sehen also in die Ferne in Zerstreuungskreisen, undeutlich, und natürlich werden die Zerstreuungskreise um so mehr das Sehen stören, je größer sie sind. Je kleiner die Zerstreuungskreise sind, desto weniger werden sie stören, desto leichter können sie entwirrt werden, desto besser wird gesehen. –

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 864. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0864.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2023)