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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

fort, „seit meine kleine Frau nicht mehr bei mir ist, verschwindet die kurze Zeit unserer Ehe immer mehr aus meinem Gedächtnisse, und in meiner Erinnerung lebt Gertrud als das, was sie mir ja auch die längste Zeit ihres Lebens war, als meine liebevolle, treue, aufopfernde Schwester.“

„Die brüderliche Liebe eines ganzen Lebens hätte sie nicht so beglückt wie die kurzen Jahre, in denen aus dein Bruder der Geliebte und dann der Gatte wurde,“ erwiderte Lisbeth mit dem Ton vollster Ueberzeugung.

„Ja,“ sagte er ernst, „dem war so, sie hat mich unendlich lieb gehabt und ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mir vergönnt war, ihr kurzes Leben so reich zu gestalten. Es ist sonderbar mit den Lebenswegen! Wir müssen den aufgeben, den wir am liebsten gehen mochten, um dann auf einem anderen doch auch wieder Glück zu finden, nur ein anderes, als wir zuerst hofften!“

Lisbeth sah ihn verwundert an; er brach ab und fügte erst nach einer Weile hinzu:

„Sie haben diese Erfahrung auch an Ihrem Bruder gemacht. Den Weg zum Glück, den er gegangen ist, Hätte er auch freiwillig nie gewählt. Und ich hörte schon mit dem herzlichsten Interesse von meinen Eltern, welche reiche Quelle der Freude sein Ergehen jetzt Ihnen geworden ist.“

Mit ganz verklärtem Gesichtsausdruck schaute Lisbeth bei diesem Lobe ihres Bruders ihn an.

„Ich bin vor einigen Wochen erst von dem Besuch bei unserem jungen Ehepaare zurückgekehrt,“ sagte sie, „und ich kann behaupten, der kurze Aufenthalt dort ist fast die schönste Erinnerung meines Lebens.“

„Erzählen Sie doch!“

„Ach, das läßt sich ja kaum beschreiben, wie diese beiden Menschen zusammen leben, und wer es nicht selbst gesehen hat, was unsere kleine Annie aus ihrem Leo gemacht hat, der kennt ihn in meinen Berichten auch gar nicht wieder. Er ist eben ein ganz anderer Mensch geworden!“

„Die Hochzeit folgte so schnell der Verlobung; sie verstanden es wirklich, zu überraschen.“

„Ja, das war alles Annies Bestimmung. Sie war durchaus der Ansicht, daß Leo sie in der ersten Zeit an dem fremden Ort am nötigsten brauche, fand es ganz lächerlich, wenn man daran, dachte, daß für sie doch auch gewisse Zurüstungen erst gemacht werden müßten, und hat denn auch alles in diesem Zinne durchgeführt. Nun hat sie sich auch wirklich eigenhändig ihr Heim dort geschaffen.“

„Es ist ein ganz kleines Städtchen, das ihnen Ersatz für so vieles bieten muß, was sie vorher in Fülle besessen!“

„Sie kennen die Stadt? Nun, dann wissen Sie, daß man eigentlich an einen jämmerlicheren Ort und in kleinere Verhältnisse gar nicht kommen kann.“

„Hat er Dienstwohnung?“

„Ja. Ein Häuschen, wie es hier kaum ein Handwerker bewohnen würde! Annie hat freilich innen ein Puppenhäuschen an Zierlichkeit daraus gemacht, aber es ist auch ein Puppenhäuschen an Kleinheit, man wundert sich ordentlich, daß so viel Liebe und so viel Glück darin Platz haben. Es sollte übrigens ausgebaut werden, das war ihm bei der Wahl versprochen worden; aber Leo findet, daß die Stadt so viel dringendere Ausgaben hat, und verzichtet. Ueberhaupt, wie die beiden Menschen mit Hintansetzung der eigenen Annehmlichkeiten für das Gemeinwohl sorgen, das ist geradezu erquickend zu beobachten! Wie hat sich Leos Herz erweitert! Wie hat sich sein Charakter geklärt und gekräftigt, seit ihn damals das Unglück traf! Er wird in Wahrheit einmal der Vater jener Stadt, wenn er so weiter wirkt. Und die kleine Frau immer neben ihm, immer ihm zur Seite, und wer ihr Gespräch belauscht, wenn sie zusammenhocken wie die Turteltauben, der hört die höchst ernsthafte Erwägung der Frage, ob’ die Verbesserung des Armenhauses oder der Umbau der Gemeindeschule oder sonst etwas derart am notwendigsten sei.“

„Wer hätte das wohl Leo in früheren Tagen zugetraut! Wahrlich, er hat sich zu bescheiden gelernt! Aber man sieht es wieder, wie eine für uns passende Stellung auch Fähigkeiten in uns entwickelt, von deren Dasein niemand, ja wir selber nicht, eine Ahnung hatte.“

„Nun, diese Umwandlung seiner Lebensausichten und Ziele verdankt er wohl vor allem seiner Annie und deren trefflichen Eltern. In einer Zeit, in der die ganze Welt ihn niederdrückte und er sich völlig verloren gab, haben jene ihn aufgerichtet und ihm nicht nur neue Lebensziele, sondern auch die Mittel und Wege dazu gezeigt. Dafür ist er ihnen aber auch in unbegrenzter Liebe ergeben.“

Sie waren unter diesen Gesprächen über den Friedhof gegangen und schritten nun einen Pfad entlang, der durch grüne Wiesen führte.

Man hatte den zweiten Schnitt gemäht, das frische Heu lag in Häufchen zusammengeharkt und ein leiser, feiner, würziger Duft stieg davon auf in die klare Abendluft.

„Wie freue ich mich um Ihretwillen, Lisbeth, dieser guten Nachrichten!“ fuhr Arnold weiter fort, indem er herzlich zu ihr aufblickte. „Ihr treues Schwesterherz hat wahrhaftig das alles wohl verdient!“

„Ja wirklich, der bloße Gedanke an Leo und Annie ist mir eine wahre Herzenserquickung,“ antwortete sie, „es ist ein Gegengewicht gegen anderes, denn, Arnold, wir sind drei Geschwister und –“

„Da giebt’s immer Grund zur Sorge, wollen Sie sagen. Freilich, Frau Elfe – “

„Hörten Sie etwas von meiner Schwester in Berlin?“ unterbrach Lisbeth ihn hastig.

„Nicht gerade viel, aber dann und wann hörte ich doch einmal, daß Ihre Elfe nicht glücklich sei.“

Lisbeths Augen waren gespannt aus ihn gerichtet.

„O, beruhigen Sie sich, man sagt Ihrer Schwester nichts Schlimmes nach. Man bedauert sie, aber Walden auch, denn offenbar passen sie zu einander gar nicht. Im Frühling hieß es sogar, daß sie sich trennen wollten, aber “

„Nein,“ sagte Lisbeth schnell, „das ist – gottlob – ein überwundener Standpunkt. Elfe wollte es, aber meine Eltern blieben fest dagegen und Walden verweigerte es ebenfalls.“ Sie seufzte tief. „Glück haben wir für sie wohl nicht mehr zu erwarten, aber vielleicht doch Frieden, wenn sie älter und ruhiger sein wird. Freilich, die Hauptsache wird ihnen immer fehlen – die echte, rechte Liebe!“

„Ja,“ erwiderte er, „Sie haben nur zu sehr recht. Das habe ich selbst in vielen schweren Stunden schmerzlich genug empfunden. Die echte, rechte Liebe allein sollte einen Ehebund zusammenhalten, freilich dürfte auch sie allein ihn nur schließen! Ich habe so viel über diese Dinge nachgedacht, weil ich mich doch auch von dem Fehler, aus einem anderen Grunde ein Menschenschicksal an das meine gebunden zu haben, nicht freisprechen konnte.“

Lisbeth sah ihn erschreckt an und sagte dann, in dem sichtlichen Verlangen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben:

„Man soll nicht zu viel über Vergangenes grübeln. Sie haben Gertrud unendlich beglückt und waren es selbst doch auch - vor ihrer Krankheit! Also ist Ihre Ehe eine von den rechten und echten gewesen.“

„Nein,“ sagte er, „so war es doch wohl nicht, und ich bin mir dessen die ganze Zeit bewußt geblieben. Ich habe für Gertrud nicht anders empfunden, als ein Bruder für eine liebe Schwester empfindet, und ich habe sie auch nicht einmal deshalb geheiratet, weil ihr Empfinden für mich meine Eitelkeit oder mein Mitleid weckte, sondern wohl deshalb nur, weil ich da, wo ich wahrhaft liebte, mich zurückgestoßen und tief verletzt fühlte. Eine thörichte Rache, wie ich nur zu bald einsah! Daß ich später meine Pflicht erfüllte, daß ich alles, that, um meine Frau glücklich zu machen, konnte mich über das Gefühl nicht hinwegbringen, daß ich ein Unrecht gegen Gertrud wie gegen mich selbst und am schwersten gegen eine Dritte begangen.“

Lisbeth hatte den Kopf abgewandt, damit er ihr nicht ins Gesicht sehen könnte, und ab und zu bückte sie sich nieder und pflückte am Wegrain eine Blüte oder ein Blättchen. Er sah nach ihr hin, als erwartete er eine Entgegnung; nun sie kein Wort erwiderte, nahm er nach einer Weile das Wort wieder auf:

„Daß man in der Jugend sich so gar nicht in die Seele anderer versetzen kann, daß man durchaus verlangt, verstanden zu werden, während man eben diese anderen doch gar nicht versteht!

Wie weich, wie biegsam, wie liebevoll war Ihr Gemüt, und Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0858.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)