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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

flinker Freudigkeit ausrichtete. machte der alte Daniel im lederüberzogenen Großvaterstuhl am Ofen sein „Nickerle“. Margarete aber saß emsig am Klöppelkissen, während ihre Gedanken bei Oswald weilten. Später vertrat sie im Kramladen die Mutter, welche in die Bühnenkammer hinaufstieg, um den Christbaumschmuck hervorzusuchen. Sie fand in der Schachtel, in schneeweiße Lämmerwolle verpackt, alles wie es der Vetter vor dreizehn Jahren hergerichtet hatte. Sie fand aber noch etwas, wovon sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte. Auf dem Boden der Schachtel lag eine notariell ausgestellte Urkunde. Darin erklärte der Vetter Daniel Heinrich Bader, Schäfer aus Distelweiler, „für Leben und Sterben“, daß er all seine Ersparnisse – es war eine schöne Summe – bei einer Bank in Straßburg hinterlegt habe. Das Geld gehöre zur Hälfte seiner Tochter Marie Bader, zur Hälfte der Tochter seines freundes Bosch, Margarete Bosch. Es solle jedoch der Marie Bader erst etwas davon gesagt werden, wenn sie konfirmiert sei, und der Margarete Bosch erst, wenn sie sich zu verehelichen gedenke. – –

„Aber Vetter, Vetter Daniel, was treibt Ihr für Sachen?“ fagte Frau Bosch erregt, indem sie mit der Urkunde in der Hand in die Stube trat.

Der alte Schäfer fuhr von seinem „Nickerle“ im Lehnsessel auf. „Was soll’s, Base Lene?“ fragte er verdutzt.

„Nun, was Ihr da habt schreiben lassen, Vetter! Das sieht ja aus, als hätten wir nicht alles, was wir dem Mariele erwiesen, gern umsonst gethan!“

„Ja, Base Lene, habt denn Ihr und Euer Mann gemeint, ich wolle euch so mir nichts, dir nichts ein Pflegekind anhängen? Ihr habt, soviel ich weiß, nicht gerade viel übrig gehabt, und ich – ich bin nach dem Tode meines Weibes wohl als ein armer Schafknecht in die Fremde gegangen, aber ein ganz unvermöglicher Mann bin ich in Distelweiler nicht gewesen. Also wenn’s Euch so recht ist, Base Lene, von dem, was da geschrieben steht, erfährt mein Mariele zum erstenmal etwas an ihrem Konfirmationstag, und Eure Margret an ihrem Hochzeitstag.“

„Wenn mir’s aber nicht recht ist, Vetter?! Und es ist mir gar nicht recht! Eurem Weib hab’ ich versprochen, daß ich das Mariele aufziehen wolle wie mein eigen Kind. Und jetzt soll ich mich von Euch wie mit einem Kostgeld abfinden lassen? Nein, Vetter –“

„Base Lene,“ sagte der Schäfer, „es thut mir leid, daß es Euch nicht recht ist. Aber ich kann’s nicht ändern! Wenn ich Euch von Rechtswegen heimzahlen sollte, was Ihr, Ihr und Euer Mann selig, an meinem Kind Gutes gethan habt um Gottes willen, ich blieb Euer Schuldner. Und – Kostgeld! Ein ‚Christkindle‘ ist’s für die Margret!“

Damit stand er auf, nahm seinen Lodenhut und seinen alten Pelzkragenmantel vom Pflock und verließ, von seinem Hund Nero geleitet, die Stube. Draußen ließ er die Schafe aus dem Stall und zog „mit sinnierigen Gedanken“, wie man’s vom „Gamaschendaniel“ gewöhnt war, die Dorfgasse entlang. – –

Abends um sieben Uhr war der Christbaum, der dem Schäfer auf den Kapellenbühl getragen werden sollte, stattlich aufgeputzt.

Die Besorgung des Kramlädchcns hatte Frau Bosch der zuverlässigen Nachbarin übergeben. Margarete war seelenvergnügt von der Bescherung im Schloß zurückgekehrt. Noch freudiger aber glänzten Marieles Augen: sie kam sich mit ihrem Baum vor wie ein Weihnachtsengel.

Man hätte können aufbrechen, wenn man nicht noch auf des Lammwirts Konrad, den biederen Hausknecht vom „Lamm“ und den Jäger Oswald gewartet hätte. Alle Drei hatten sich zur Begleitung auf den Kapellenbühl angeboten: Konrad, weil er den Korb mit den Weinflaschen tragen wollte, der Hausknecht, weil er meinte, die Laterne sei „von wegen den Baumwurzeln“ nur in seiner Hand vor einem Unfall sicher, der Jäger, weil er, wie er behauptete, nicht fehlen durfte, wo es gelte, einen alten guten Brauch wieder zu Ehren zu bringen.

Und die Drei fanden sich, ohne daß man allzulang auf sie warten mußte, der Reihe nach ein. Konrad bemächtigte sich mit seinen Pelzhandschuhen des gesamten Mundvorrats. Der Hausknecht zündete seine Laterne an. Der Jäger kaufte für seine kurze Pfeife im Kramladen ein Päckchen Tabak; er hatte das Tannenbäumchen der Bittstellerin recht freundlich verwilligt. Und nun ging’s auf möglichst einsamen Pfaden, weil man „unbeschrieen“ bleiben wollte, durch die mäßig verschneiten Wiesen und die waldige Berghalde entlang zu dem eine halbe Stunde entfernten Kapellenbühl.

Wir lassen die Wanderer durch den Wald allein gehen; für Oswald und Margarete, die dicht nebeneinander schreiten, … wären wir eine lästige Gesellschaft. Aber auch Frau Bosch, Mariele, Konrad und der lichtspendende Hausknecht können unserer Begleitung füglich entraten.

Wir eilen voraus zum Kapellenbühl und machen am Pferchkarren Rast.

„Des Schäfers sein Haus und das steht auf zwei Rad,
Steht hoch auf der Heiden, so frühe wie spat;
Und wenn nur ein mancher so’n Nachtquartier hätt’!
Ein Schäfer tauscht nicht mit dem König sein Bett.“

singt Mörike! Und er hat recht.

Freilich, unser alter Daniel ist ein gestandener Mann, nicht mehr so jugendlich leichtblütig wie Mörikes Schäfer. Allerlei Gedanken, ernste und heitere, gehen ihm durch den Kopf, während er zu dem grau überlaufenen Nachthimmel hinauf, zu dem schweigenden Wald hinüber blickt. Mit dem Schatzgraben ist’s heute nichts; der Bodcn ist, wiewohl der Frost nicht allzustreng waltet, doch hart gefroren. Auch kommt es nie dazu, daß drei Schafe ihre Köpfe zusammenstecken, ihm das erwünschte Zeichen für die richtige Stelle zu geBen.

Allerlei Gedanken: sein Weib, das er noch nie hat vergessen können, sein Kind und die Konfirmation im nächsten Frühjahr, was die Base Lene von der Urkunde denkt, und ob Margret nicht doch bald Heiratstag haben wird ...

Nero, der Hund, wird unruhig und schlägt an; denn er hat in der Ferne des Hausknechts Laterne bemerkt und Tritte nahen hören durch die tiefe Stille der Nacht. Sein Herr bringt ihn nur mit Mühe zum Schweigen.

Nun flammen im völlig windstillen Dunkel sechs, sieben, acht andere Lichter auf.

Jetzt erkennt der Schäfer Daniel die Base Lene, die zwischen dem Jäger und ihrer Tochter sich eine unerschütterliche Stellung erkämpft hat. Da keucht der schwerbeladene Konrad heran. Aber allen voraus schreitet sein Kind und bringt ihm den Christbaum, damit er auch Weihnacht feiern kann auf dem Feld.

„Aber Base, Base Lene, was denket Ihr, was treibet Ihr!“ ringt es sich von des alten Mannes Lippen los. Und weil die Base keine Antwort giebt, stimmt Margret mit hellem Klang das alte liebe Lutherlied an:

„Vom Himmel hoch, da komm’ ich her
Und bring’ euch gute neue Mär.“

Der Schullehrer hat’s mit dem gemischten Chor für den morgigen Festtag eingeübt. Und der Jäger Oswald nimmt andächtig die Pfeife aus dem Mund und fällt mit seinem kräftigen Baß ein.

Wie aber das Lied zu Ende gesungen ist, wird der brennende Baum auf ein paar zusammengestellte Hürden gepflanzt, und der alte Schäfer Daniel sieht sich in einem Kreis froher Menschen die Geschenke an, mit denen er sonst noch bedacht worden ist.

Viel Worte macht er ebensowenig wie die Base Lene, aber das Herz ist ihm zum Zerspringen voll. Und schließlich hat er nichts dagegen einzuwenden, wie sie alle aufbrechen, um ihn allein zu lassen bei seinem Pferchkarren und seinen Schafen, mit seinem Hund und seinen sinnierigen Gedanken.

Der Hausknecht hat ein neues Licht in der Laterne aufgesteckt. Konrad schwenkt den Arm, der keine Last mehr heimzutragen hat. Der Jäger und Margret sind schon ins Dunkel des Waldes getaucht.

Doch ehe die Base Lene den alten Daniel verläßt, nimmt er sie ein wenig beiseite und sagt: „Lene, nichts für ungut, aber ich meine, die Urkunde auf dem Boden der Schachtel ist für die Zwei da vorn nicht so ganz ohne. Was meint Ihr?“

Man sagt den Schäfern nach, sie können das Wetter prophezeien. – Warum nicht auch eine Verlobung?


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0839.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2023)