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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Sehen Sie, Fräulein Annie – – ich träumte einen Traum – einen beseligenden Traum, von einem zwar kleinen, aber reizenden Häuschen, in dem ein süßes Weibchen waltet und schaltet und ihres Eheherrn, des gestrengen Herrn Bürgermeisters, harrt, – aber das Häuschen war nur in meinen Träumen so reizend, in Wirklichkeit ist es enge und düster, wie alle Verhältnisse dort – – darf ich der Geliebten solche entsagungsvolle Zukunft anbieten, kann ich erwarten, daß mir zuliebe mein Schutzengel aus der sonnigen Sphäre seines gegenwärtigen Lebens herab in meine arme Hütte steigt, um –“

Sie hatte mit purpurroten Wangen vor ihm gestanden, das Köpfchen tief gesenkt; nun stahl sich eine Thräne unter den Lidern hervor, und die hoben sich und ihre Augen blickten ihn an in namenloser Liebe. Und plötzlich lag sie an seiner Brust und jubelte und schluchzte, und er bedeckte ihr Antlitz mit heißen Küssen und die Thränen rollten immer wieder und wieder aus seinen leuchtenden Augen in den Bart.

„Hier,“ flüsterte er ihr zu, „hier, an dieser Stelle war es, wo Du mich vor Verzweiflung rettetest – und hier wirst Du auch die Meine!“

„Ich war das längst,“ gab sie zurück und schmiegte sich fester in seine Arme, „mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzuge habe ich Dir gehört, seit ich Dich kannte, und siehst Du, Leo, bei mir bewahrheitet sich wieder das Wort: Wer ausharret, wird gekrönt! Zuweilen bin ich daran verzweifelt, daß dieses Glück mir werden könnte.“

„Dieses Glück! Süßes Herz! Andere werden Dich anders darüber belehren. Was habe ich Dir zu bieten, Dir, der man Gold und Ehren zu Füßen legen würde, um Dich zu erreichen!“

Sie lachte hell und lustig, ein bezauberndes, geringschätzendes Lächeln haftete an ihrem kleinen roten Munde.

„Gold?! – Kann man damit Glück kaufen – solch ein Glück, solch ein hohes, beseligendes Glück, wie uns die Liebe schafft? – und Ehren? – denkst Du, daß es für mich eine größere Ehre auf der Welt geben kann, als Leo Brückners Hausfrau zu werden? Schatz, Liebster, hilf mir, daß ich nicht übermütig werde, sondern mich immer dieses Glückes und dieser Ehre würdig zeige!“

Sie hielten sich wortlos in seligem Vergessen der ganzen Welt umschlungen.

„Laß uns nach Hause gehen, Leo,“ mahnte Annie endlich, „man wird mich schon vermissen, und Du wirst wohl nicht zaudern wollen, die Eltern so freudig zu überraschen.“ Er sah sie, indem ein Schatten über sein Gesicht flog, mit etwas unsicherem Ausdruck an, und sie hing sich liebevoll an seinen Arm.

„Papa wird sich furchtbar über den neugebackenen Herrn Bürgermeister von W. freuen,“ sagte sie, indem sie sich innig an ihn drückte, „und noch mehr über den Schwiegersohn, den er ja längst so zärtlich liebt, als wäre es der eigene Sohn.“

„Weißt Du das so gewiß, Annie?“

„Ja, das weiß ich gewiß, und nun komm’! – Ueberraschung gegen Ueberraschung – es erwartet Dich dort auch etwas Neues!“ – – –

Am anderen Morgen betrat Leo das Speisezimmer, als seine Eltern sich eben zum Frühstück niedergelassen hatten. Man begrüßte ihn mit jener mitleidsvollen Freundlichkeit, die er nun schon gewohnt war, und während man den Kaffee nahm, fragte man ihn nach seinem Ergehen, nach dem seines Freundes in W., und erzählte von den kleinen Vorkommnissen im Hause und von dem Inhalt der Waldenschen Briefe, ehe man zu den interessanten Stadtneuigkeiten überging. Lisbeth, vielleicht die einzige, die ihn schärfer beobachtete, bemerkte das Leuchten in seinen Augen, den Glanz, der über ihn ausgegossen schien; aber da weder Vater noch Mutter ein Wort dafür hatten, so schwieg sie auch.

Nun zündete der Geheimrat sich eine Cigarre an und griff nach der Morgenzeitung, seine Frau rückte ihm näher, um mit einzusehen, und während Lisbeth den Kaffeetisch abräumte, trat Leo ans Fenster, sah hinein in den sonnigen Frühlingsmorgen und überlegte, wie er jetzt wohl hervorkommen sollte mit all dem Glück, das ihm die Brust schwellte.

„Käthchen,“ rief in dem Augenblick der Geheimrat, „sieh’ her, das ist eine Neuigkeit!! Wer hätte das gedacht, das muß da eine Freude sein! Lisbeth, Leo, hört einmal! Da ist eine Notiz der Redaktion: ,Soeben geht uns die Nachricht zu, daß Herr Oberst von Giersbach von Sr. Majestät zum Generalmajor ernannt ist und schon in nächster Zeit unsere Stadt verläßt, um nach Berlin überzusiedeln‘. Wer das gedacht hätte, Käthchen! Ich habe keine Ahnung gehabt, daß der Mann solche Aussichten hat. Wir haben uns übrigens immer viel zu wenig um diese liebenswürdige Familie gekümmert, Frauchen. Aber was sagst Du denn dazu? Wie die wohl im Glück schwelgen werden! Na, Leo, und Du schweigst auch – die Sache ist doch wahrlich keine Kleinigkeit!“

„Nein, eine Kleinigkeit ist das nicht, und so fassen sie es dort auch nicht auf,“ antwortete dieser und trat näher. „Es ist ihnen eben auch ganz überraschend gekommen, und die Rangbeförderung eine ehrenvolle Anerkennung seiner Verdienste, die er und die Seinen nach ihrem vollen Werte schätzen.“

„Also, Du wußtest es schon?“ fragte erstaunt der Geheimrat und sah ihn höchst verwundert an. „Nach diesem Zeitungsbericht ist die Beförderung doch erst gestern aus dem Kabinett gekommen.“

„Ja, so ist es,“ sagte Leo, „wir haben aber gestern abend schon die Bowle über diesen Glücksfall und alle sonstigen freudigen Neuigkeiten, die in dieses gesegnete Haus kamen, getrunken, und –“

„Wir haben schon die Bowle –“ wiederholte die Geheimrätin und starrte ihn an, als ob sie fürchtete, er sei nicht recht bei Sinnen – „Du, bei Generals?!“

„Alle sonstigen freudigen Neuigkeiten?“ unterbrach zugleich der Geheimrat seine Worte. „Was ist denn sonst noch passiert? Er ist wohl auch gleich in eine höhere Ordensklasse hinaufgerückt – wie?“

„Nein, – das nicht, – aber Annie hat sich verlobt, und –“

„Fräulein Annie sich verlobt?“ rief die Geheimrätin und fühlte sich wieder auf etwas festerem Boden, „sieh’, sieh’, welche Ueberraschung! Da ist ein Schlauer flink dabei gewesen! Wer ist denn der Glückliche?“

Und während Lisbeth, über deren Gesicht plötzlich eine dunkle Blutwelle flutete, sich hastig vorbeugte und dem Bruder ahnungsvoll starr ins Antlitz sah, ohne ein Wort über die zitternden Lippen bringen zu können, rief die Geheimrätin nochmals:

„Wer ist denn der Glückliche?“

Da richtete sich Leo in die Höhe und rief mit einem ununterdrückbaren Jubelton in der Stimme:

„Ich bin’s! Vater, Mutter, – ich bin der Glückliche. Ja, ja, es ist mir selbst immer, als wäre es ein Traum – so viel des Glückes auf einmal!“

„Du?!“ riefen die Eltern wie aus einem Munde, sahen sich an und reichten sich die Hände, um sich aneinander festzuhalten bei dem, was nun kommen mußte, denn daß der Leo – –

„Junge, besinne Dich,“ rief der Geheimrat, „fasele nicht! Du – Bräutigam? Was bist Du denn, daß Du an so etwas denkst?“

„Nun, Vater, vorläufig freilich nichts Großes: Bürgermeister von W. mit dreitausend Mark Gehalt – aber mit der Zeit soll es wohl besser werden! Vielleicht mache ich euch noch einmal die Freude, daß ihr mich mit der goldenen Amtskette eines Oberbürgermeisters seht.“

„Was bedeutet das alles?“ sagte die Geheimrätin, die ganz blaß vor Aufregung geworden war, und schlug ihre Hände vor das Gesicht. Du Bürgermeister von W.? Du Schwiegersohn des General von Giersbach? Und die Eltern sind damit zufrieden? Und Annie nimmt Dich und wird in dem kleinen Neste die Bürgermeistersfrau!?“

„Ja, Mama,“ sagte Leo, ohne jede Schärfe und Bitterkeit in der Stimme und mit so glückstrahlendem Lächeln, daß es die Eltern überzeugte, „ja, sie nimmt mich und ist eine glückselige Braut, denn – denke Dir, Mamachen – mein Schatz ist so thöricht, zu behaupten, es gäbe für eine Frau keine größere Ehre auf der Welt, als des Mannes Weib zu sein, den sie liebt!“

„Das verstehe, wer’s kann,“ murmelte die Geheimrätin vor sich hin und legte den Kopf in ihre Hände, aber Leo fuhr ohne jede Empfindlichkeit fort:

„Ich wollte euch die Sachlage nur erst mitteilen, jetzt gehe ich, meine Braut zu holen, damit wir gemeinsam euch bitten können, unserem Bunde euren Segen zu geben!“

Und während Lisbeth sich innig in ihres Bruders Arme warf, rief der Geheimrat: „Nein, Leo, so machen wir es nicht! Wir wissen auch, was sich in solchem Falle ziemt. Kleide Dich an, liebe Frau, wir wollen gleich zu General Giersbach fahren, um unsres Sohnes geliebte Braut und seine verehrten Schwiegereltern zu begrüßen!“ (Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0827.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2023)