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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Kopfe; das bleiche Faltengesichtchen, so zusammengeschrumpft, ist doppelt mitleidswürdig in den üppigen braunen Löckchen.

Er zieht ein Fläschchen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit aus der Tasche, flößt mit dem Löffel dem Kinde erst davon, dann etwas Wasser ein, wobei er das Köpfchen festhält. Darauf geht er die Handtücher holen, taucht sie in den Eimer, ringt sie aus und faltet sie zusammen. Das eine legt er unter den Kopf des Kindes, das andere wickelt er ihm um den Leib und deckt es sorglich zu. Nun ergreift er einen Küchenstuhl und setzt sich vor den Wagen.

Mäuschenstill alles, nur die Küchenuhr tickt, in der Lampe zischt das verbrennende Petroleum, und ganz fern verworren murrt das Nachtleben der Großstadt.

Jetzt stößt das Kind wieder seine Klagetöne aus. Wird er es retten? Das eigentliche Uebel ist nicht in einer Nacht zu heben – aber diese toddrohende Wendung, die es genommen! Und nach einiger Zeit steht er auf und untersucht die Tücher, sie sind heiß, daß sie rauchen. Er nickt befriedigt, näßt sie wieder durch und bringt sie an die alte Stelle.

Dann sitzt er wieder, der verkörperte Rettungswille. Die Krankheit hat den Kampf mit ihm aufgenommen – das ist schon etwas. Und als er wiederum untersucht, weiß er, daß es lohnt, ihn durchzuführen: so heiß wieder die Tücher!

Wohl eine halbe Stunde vergeht.

Er kümmert sich nicht um die Zeit, er näßt ab und zu die Tücher, wenn sie durchhitzt sind. Die kläglichen Laute verstummen, das Kinderköpfchen liegt ruhig. Und wie er jetzt fühlt, ist das Tuch unter dem Kopf nur wenig erwärmt.

Er legt es fort, wickelt das andere ab, der kleine Leib ist kühl. Sorgfältig deckt er das Kind zu, und wie er einen Blick in das Gesichtchen wirft, sieht er, daß die Augen geschlossen sind, und hört ruhiges Atmen. Der kleine Patient ist eingeschlafen.

Ein wundervolles Glücksgefühl durchströmt den Arzt, wie er es nur als Student bei seinen ersten Erfolgen empfunden hat, und es hält vor – er kann es ausgiebig durchkosten. Es geht auf und nieder, wie ein Feuer, und manchmal fährt’s wie ein Windstoß hinein, daß es hell aufschlägt. So hält er die einsame Wacht weiter, nur ab und zu sich vorbeugend, um die ruhigen Atemzüge zu hören.

Er weiß nicht, wie lange. Eine leichte Ermüdung bemächtigt sich seiner, die wilde Eisenbahnfahrt übt ihre Nachwirkung und er versinkt langsam in sich.

Plötzlich fährt er auf, nur ein ganz leises Geräusch in den Kissen war es, was ihn geweckt. Er steht auf, beugt sich zu dem Kinde, das hat die Augen offen. Noch tiefer – das sind doch klare, verständige Kinderaugen … Er holt die Lampe näher, bei Gott, das ist nicht mehr der wirre Idiotenblick, das sind gesunde Augen, die ihn verlangend ansehen, und dieser jetzt übergroße Mund mit den schmalen Lippen führt Bewegungen aus wie ein schluckender Fisch. Es hat Durst! sagt Doktor Hartmann für sich.

Er mischt frisches Wasser mit abgekochtem, warmem, und setzt das Glas an des Kindes Lippen. Das trinkt – trinkt, unersättlich. Er nimmt das Glas fort, aber die schmalen Lippen bitten um mehr.

Dann sinkt das Köpfchen schlaff zurück, nach Sekunden ist das Kind wieder eingeschlafen.

Der Arzt auf dem Küchenstuhl sitzt wieder in verdämmerndem Bewußtsein – das Kind weckt ihn noch einmal, zweimal – es will trinken. Und Doktor Hartmann giebt ihm und lächelt – „Nichts zu trinken geben!“ hat der Kollege Cujavius anbefohlen!

Dann schlafen sie beide, das Kind und der Arzt. Der Kopf des Doktor Hartmann ist fast bis auf die Kniee hinabgesunken.

*  *  *

Die Küchenuhr zeigt die fünfte Stunde, da öffnet sich leise die Thür vom Korridor her; die junge Mutter, mit der angstvollen Frage in den Augen. Sie sieht aus, wie Doktor Hartmann sie am Abend zurückgelassen – so hat sie sich auf das Bett geworfen, geschlafen wie eine Tote, ist plötzlich erwacht und weiß nicht, warum.

Doktor Hartmann ist beim leisen Knirschen der Klinke aufgefahren, aufgesprungen, so munter, als hätte er den Kopf in Wasser getaucht.

Er hat das erlösende Wort für sie – aber wie sie dasteht, mit all ihrem edlen Reiz, so hilflos bange, so mädchenhaft, da überkommt’s ihn, nimmt ihm den Atem; sein Herz stockt, die Hände sind ihm eiskalt, wie er auf sie zutritt. Sie fragt ihn nichts, nur ihre Augen suchen ihn. Er lächelt schwach – ein Lächeln wie in Schmerzen, und dicht vor ihr breitet er die Arme, und eine Flut von Leidenschaft bricht aus seinen Blicken über sie – und dann fällt er nieder und umfaßt ihre Kniee …

„Helene,“ sagt er mühsam, „da ist Dein Kind, und es wird leben!“

Sie steht wie erstarrt, aber aus ihren Augen fallen die Thränen auf ihn, und ihre Hände streicheln weich über sein Haar.

„Was thu’ ich!“ … spricht sie über ihm … „Mein Eid … ich hab’ es ja verschworen ... Aber mein Kind! mein Schmerzensreich! …“


Aus Karl Vogts Jugendzeit.

Unter den vielen bedeutenden Forschern, deren gemeinsames Lebenswerk unserm Jahrhundert die Bezeichnung des „naturwissenschaftlichen“ eingetragen hat, ragte Karl Vogt bis an sein Ende unter denen hervor, die neben dem Drange, selbst zu forschen, den Trieb in sich fühlten, die Resultate der Forschung allen Kreisen des Volkes mitzuteilen. Wie wenige hat er es verstanden, dies in einer wirklich volkstümlichen, gemeinverständlichen und anregenden Weise zu thun. Der gelehrte Zoologe und Geologe, der in hundert Specialarbeiten die großen Erkenntnissätze der natürlichen Entwicklungslehre erprobt und bestätigt hat, war zugleich ein deutscher Volksschriftsteller ersten Ranges, der als solcher wesentlich dazu beigetragen hat, jene Forschungsresultate der allgemeinen Volksbildung zu vermitteln. Als solchen ihn zu rühmen, war nach seinem am 5. Mai vorigen Jahres erfolgten Tode ganz besonders die „Gartenlaube“ berufen, die er so oft als Tribüne benutzt hatte, um in seiner frischen, von Geist und Laune belebten Darstellungsweise neue Fragen und Errungenschaften der Naturwissenschaft vor das Forum des weitesten Leserkreises zu bringen. Wie auf seiner ersten großen Forschungsreise nach dem Nordkap hat er in allen Phasen seines späteren Gelehrtenlebens unter dem frischen Eindruck neuer Eroberungen des Wissens zur Feder gegriffen, um mit froher Entdeckerlust in der „Gartenlaube“ über dies Neue zu berichten und dessen Wert festzustellen für das Gemeinwohl und den allgemeinen Bildungsschatz der modernen Menschheit.

Schon damals ist an dieser Stelle Karl Vogts Eigenart als Volksschriftsteller im Zusammenhang gewürdigt worden mit seiner Thätigkeit als Volkstribun in jenen Freiheitskämpfen des deutschen Volkes, welche das Metternichsche Polizeiregiment niederwarfen und der Entwicklung des Vaterlands zum neuen Reich freie Bahn schufen. Wie tief aber dieser Zusammenhang schon in Vogts Herkunft und in den Verhältnissen, unter denen er aufwuchs, begründet war, das entzog sich bisher unserer näheren Kenntnis. Erst das Fragment seiner Selbstbiographie, welches vor kurzem unter dem Titel „Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke“ bei Erwin Nägele in Stuttgart erschienen ist, verbreitet darüber Licht, und zwar in ebenso reichlicher wie vielfach überraschender Weise. Das Buch schildert die Jugendzeit Karl Vogts bis zu seiner ersten Flucht als politisch Verfolgter nach der Schweiz und seinen ersten Versuchen, dort als Gelehrter festen Fuß zu fassen. Die Absicht des greisen Forschers, diese „Rückblicke und Erinnerungen“ auch durch seine Mannesjahre fortzusetzen, ward leider durch seinen Hingang vereitelt; der Tod nahm ihm die nimmermüde Feder aus der Hand. Seine Kunst, über ernste Dinge amüsant zu plaudern, hat Karl Vogt in diesen Aufzeichnungen ganz besonders bewährt. Was die alte Musenstadt des Nassauer Hessenlandes, Gießen, an komischen Originalen in den Jahren besaß, da die Knaben des Professors Wilhelm Vogt in ihr echte und rechte Gassenjungen und daneben auch Gymnasiasten waren, das läßt er auf dem Wege zu den Stätten seiner Jugendspiele und Jugendthaten mit frohem Behagen vor uns aufmarschieren. Dennoch ist die Hauptwirkung des Buches ernst belehrend und anregend zum Nachdenken über die wichtigsten Fragen der Erziehung und Bildung, wobei die leitenden Gedanken der Ueberzeugung Vogts entstammen, daß die Wissenschaft und alles Lernen tot ist, wenn sie nicht das Leben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0816.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2023)