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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

sich’s vorstellte. Wo mochten die Kinder schlafen’? Hoffentlich nicht vorn über seinem Schlafzimmer – nein, Gott sei Dank, dort war der Raum zu klein; er würde wenigstens ruhig ausschlasen können …

Wenn er nur wüßte, ob diese Dame Klavier spielt! Das würde er auf keinen Fall aushalten können; nicht weil er unmusikalisch war – gerade im Gegenteil, weil er ein für Musik so sehr empfindliches Ohr besaß. Er würde hilflos, gedankenlos zuhören müssen oder flüchten. Vielleicht ging sie doch wenigstens darauf ein, nur in den Nachmittagsstunden zu spielen, wo er ohnedies ausging!

Er rauchte, las – horchte ... uoch ein paarmal das Aufstehen, Gehen, er verfolgte ganz genau Richtung und Endziel – das leise Glockenklirren ... wie das Gas da zischte, mit wilder drängender Kraft! Sogar das war ihm heute lästig. Er sah ein paarmal nach der Uhr; endlich überwältigte ihn die Ungeduld und er ging schlafen.

Was wird der nächste Tag bringen? Er wird ja versuchen, wieder zu arbeiten!

Seinen Morgenschlaf stört nichts, er erwacht zur gewöhnlichen Zeit.

Da – da haben wir’s! Ueber dem Salon nebenan trappelt es schon hin und her. Da wird, wie es scheint, bereits Haschen gespielt, während er sich ankleidet! Gerade als er in den Salon tritt, kommt es vom Eßzimmer oben hergerannt, die ganze lange Flucht bis zur Fensterwand des Salons. Die Galle rührt’s ihm auf und er zieht grimmig die Brauen zusammen, indem er unter diesem dumpfen Gewitter hin zum Frühstückstisch geht.

Diese unerhörte Rücksichtslosigkeit! Das Weib weiß, daß dieses Getrappel einen Menschen quält, der es hilflos mit anhören muß, aber sie denkt nicht daran, es zu beschränken! Mit dem Arbeiten wird es demnach nichts werden!

Er setzt sich und frühstückt.

Er wird also bewußt und absichtlich genötigt, auszuziehen! Diese Kinder haben da offenbar den Weg durch die ganze Wohnung frei – es würde nicht einmal etwas nutzen, den Schreibtisch zu versetzen. Er könnte sich ja auswärts eine ruhige Arbeitsstube zu mieten versuchen; aber das wird er nicht thun. Er wird umziehen!

Das trappelt – da fällt eins: es giebt einen dumpfen Schlag und dann ein Geschrei …

Nun wahrhaftig! Er hat den brennenden Wunsch, dieser Dame gründlich die Wahrheit zu sagen. Das wird er auch noch thun! Mag sie es unbillig finden, daß sie einem fremden Manne zu Gefallen eine gemietete Wohnung wieder aufgeben sollte: nur Hochmut und Gemütlosigkeit kann auf der Bedrängnis eines Mitmenschen so vollkommen gleichmütig herumtrampeln lassen. Mündlich wird er das besorgen, nicht wieder schriftlich.

„Hören Sie bloß den Radau da oben,“ sagt er zu Frau Fricke, die abräumen kommt. „Hat denn das Weib wenigstens ein Kindermädchen? Die Kinder müßten doch ab und zu ins Freie kommen!“

„Ja – sie werden wohl gerade mit dem Kleinsten beschäftigt sein, Herr Doktor. Ich habe dem Mädchen gesagt: sie kann ja, wenn schönes Wetter ist, mit den Kindern auf den Belle-Allianceplatz gehen. Nun kommt freilich der Winter heran …“

„Natürlich; daran habe ich noch nicht einmal gedacht! Ich werde nachher ausgehen, eine andere Wohnung zu besorgen; machen Sie sich auf den Umzug gefaßt, Frau Fricke.“

„Wie Sie denken, Herr Doktor. Es thut mir so leid … es sind wirklich so niedliche Kinderchen!“

„Sehr niedliche Kinderchen, ausgezeichnet: niedliche Kinderchen!“

Frau Fricke schwieg still, ganz verschüchtert.

„Aha, da kommt ja schon die Equipage!“

Man hörte ein Rollen über die Dielen her, von der Thür ausgehend, die zu den Wirtschaftsräumen führte. Umgehend setzten sich von da und von dort her zwei Paar Kinderfüße in Bewegung, in der Richtung auf das Rollen zu.

Der Doktor Hartmann riß nach raschem Prüfen ein Stück „Lokalanzeiger“ ab, steckte es zu sich und ging Wohnungen besichtigen.

Als er zurückkehrte, war er ermüdet und verdrießlich. Er hatte nichts Passendes gefunden. Er warf Hut und Ueberrock an die Haken, als wären sie schuld daran.

In der Wohnung war es lauschig still, die Oktobersonne warf ein paar glührote Streifen auf den Teppich … er horchte, oben regte sich nichts. Als er ins Eßzimmer trat, öffnete Frau Fricke möglichst geräuschlos die Thür. „Die Kinder sind auf dem Belle-Allianceplatze, Herr Doktor.“

„Schön,“ sagte er, worauf sie verschwand. Jetzt könnte er also arbeiten! Wenn er nur nicht von dem Herumfahren und Treppenablaufen so erschöpft und zerstreut gewesen wäre!

Er warf sich in den niederen, ledergepolsterten Kameltaschensessel und streckte die Beine von sich, durch die Mitteilung der Wirtschafterin etwas milder gestimmt.

Hätte er nur glauben dürfen, daß man die Kinder fortgeschickt, um ihm Ruhe zu schaffen, er hätte es der Dame gern gut geschrieben. Wie dumm – läuft er, fährt er in der Stadt herum, und hier ist Friede zum Arbeiten gewesen. Er wird sich also das Wohnungsuchen ersparen, bis schlechtes Wetter ist …

Wie diese Dame wohl aussehen mag? Vor seiner Phantasie schwebt immer so ein schattenhaftes Wesen herum, schlank, vornehm, in Schwarz, aber mit unfaßbaren Zügen. Er sieht einen Gesichtsausdruck, aber das Gesicht selber zerrinnt ihm, sobald er darauf achten will. Sie macht sicherlich einen guten Eindruck, das ergiebt sich aus den Aeußerungen der Homeyers, der Frau Fricke und des Mädchens der Dame. Nun – er will ihr ja eine Visite abstatten, sich mit ihr anssprechen: im Augenblick wäre er freilich nicht in der Stimmung dazu!

Merkwürdig: jetzt ist ihm die Stille oben ordentlich befremdend. Immer wieder ertappt er sich, daß er nach oben horcht … trapp, trapp, trapp, so etwas Beflügeltes hat das an sich; es erinnert irgendwie an kleine Vögel. Es weht dahinter von kurzen Röckchen, die sich schwenken. Ah – er weiß gar nicht einmal: sind’s Jungen oder Mädchen, diese beiden? Trapp, trapp, trapp – so klein klingt das, so drollig klein, man kann beinahe abmessen, wie groß der Umriß des Füßchens ist, vom bloßen Klange!

Wenn man davon absieht, daß es höchst störend sein kann, dies trapp, trapp, trapp, so muß man es possierlich finden. Vielleicht ließe sich wirklich der Beschäftigung mit diesen Miniaturmenschen eine Art Reiz abgewinnen, hinlänglich lohnend, um müßige Minuten auf sie zu verwenden. Etwa wie man sich mit kleinen Katzen amüsiert! Man studiert und genießt das Niedliche, und das ist am Ende doch auch ein Teil des Schönen und ein Kapitel der Aesthetik…

Ach was – er wird noch ein wenig schreiben; er ist genug erholt jetzt. Er geht an den Schreibtisch, sammelt sich – wohl eine Stunde sitzt er ganz vergraben.

Da – da fährt wieder die Equipage oben; er hört ein feines dünnes Stimmchen schreien; richtig wie ein Kätzchen – der Wagen rollt hin und her. Und jetzt wieder die Trappelfüßchen, nicht so wild wie am Morgen – gerade über ihm läuft’s zum Fenster, das eine Paar, das andere Paar … Schritte Erwachsener …

Er macht eine ungeduldige Bewegung, legt die Feder hin. Aber er wartet mit einer gewissen Neugier auf die Füßchen. Jetzt – das ist das Kleinere; das muß ein Junge sein! Es stapft so gerade auf, so derb: eine gewisse sachliche Knappheit spricht aus den kurzen, festen Tritten, eine Sicherheit des Ausschreitens, die nicht durch den Weiberrock gehemmt ist. Das andere ist sicher ein Mädchen – die paar Schritte, wie federn sie! Die Kniee schieben den Rock vor, so tritt der Fuß wie von selbst auf die Zehen ... drollig ist das. Man sieht ordentlich die kleinen Beinchen vor sich, wie sie zappeln …

Aha, der kleine Mann stampft, es paßt ihm wahrscheinlich etwas nicht ... jetzt sind sie beisammen … jetzt fliegt das Fräulein davon, ins Nebenzimmer, der kleine Bursch hinterher … das wird etwas geben dort, das wird etwas geben! …

Der Doktor Hartmann verliert auf ein Paar Augenblicke den ganzen trotzigen, abwehrenden Ernst, er kraut den krausen Vollbart und lächelt für sich und wartet ordentlich gespannt … Dann springt er auf und ruft durch die Thür: „Frau Fricke!“

„Ja, Herr Doktor?“ Sie kommt vom Kochen, die alten spinnenhaften Hände an der Schürze abwischend.

„Ist nicht das kleinere, das da oben herumläuft, ein Junge, das größere ein Mädchen?“

„Jawohl, Herr Doktor; das allerkleinste ist auch ein Junge.“

Er war sehr befriedigt und sie sichtlich verblüfft über den Ton, in dem er sprach.

„Es hört sich so an,“ sagte er und wandte sich ab.

(Fortsetzung folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0787.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2023)