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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Er stöhnte laut auf. „Nun ist jede Hoffnung für ihn ausgeschlossen und, Käthchen, er ist unser einziger Sohn!“

„Ja,“ sagte sie und drückte die Lippen zusammen, damit der Seufzer nicht hörbar würde, der sich aus dem tiefsten Herzen hervorrang, „es ist hart; aber, Erich, für mich giebt’s viel Härteres. Der Himmel hat es mir eben gezeigt – ich will nicht murren, wenn ich nur Dich behalte! Sieh, da ist der Wein – Du mußt das Glas austrinken, so – auf einen Zug! Nun stütze ich Dich, Lisbeth nimmt Dich auf der andern Seite, versuch’s nur, wir gehen ins Schlafzimmer und Du schläfst noch ein Stündchen – ja, ich bleibe bei Dir – bleibe an Deinem Bette sitzen, damit ich zur Hand bin, wenn Du etwas brauchst!“ (Fortsetzung folgt.)


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Schutz den kindlichen Arbeitern!

Von C. Falkenhorst.

Von dem Erkerfenster meines Wohnzimmers in der Großstadt überblicke ich zwei sich kreuzende Straßen. Wie buntbewegt, kaleidoskopisch abwechselnd das Treiben der Menschen dort unten auch erscheinen mag, so kehrt doch eine Anzahl von Bildern in ihm mit pünktlicher Regelmäßigkeit zu gewissen Tagesstunden wieder. In dem Leben der Großstadt gleicht ja so vieles dem Gang des Räderwerkes einer Uhr, der sich täglich in gleicher Weise wiederholt. Leider sind die Bilder, die ich tagtäglich schaue, nicht immer erfreulich, nur zu oft sehe ich da Menschen, die zu schwer im Kampfe ums Dasein ringen Müssen: Greise, denen ein hartes Geschick keinen ruhigen Lebensabend beschied, und Kinder, die keine goldene Kindheit kennen und im zartesten Alter ihr tägliches Brot verdienen müssen. Tagaus tagein huschen sie dahin – die winzigen emsigen Arbeiter, kaum den Kinderschuhen entwachsen, Knaben und Mädchen noch im schulpflichtigen Alter. Im Dunkel des winterlichen Morgens, da ihre Schulgenossen zumeist noch in tiefem Schlummer ruhen, beleben sie schon die Straße, gleichviel ob das Wetter still ist oder ein eisiger Wind mit Schneegestöber dahinbraust; sie verschwinden in den Hausthüren und eilen treppauf und treppab, um allerlei Dienste zu besorgen, Zeitungen auszutragen, Frühstücksbrot den Kunden zu bringen oder Milch abzuliefern. Sie eilen und jagen; die Zeit drängt ja; denn nachdem sie ihre Arbeitsgänge besorgt, müssen sie mit ihren Büchern und Heften pünktlich in der Schule erscheinen. Wie sollen da die Köpfchen arbeiten und dem Vortrag des Lehrers folgen, wo die kleinen Körper ermattet sind und die müden Augen sich unwillkürlich schließen, den versäumten Schlaf nachzuholen! Fürwahr, diese Schulkinder leiden nur zu oft unter einer Ueberbürdung, die so schwer ist, daß sie selbst das härteste Herz rühren sollte! Staat und Gesellschaft haben die Pflicht, sich dieser kindlichen Arbeiter schützend anzunehmen; und mit der Erfüllung dieser Pflicht sollte man nicht säumen, denn die Zahl jener bemitleidenswerten Kinder ist keineswegs gering.

Unseren Volksschullehrern gebührt das Verdienst, diesen sozialen Schaden aufgedeckt zu haben. In ihrer ernsten und schwierigen Berufsthätigkeit haben sie gefunden, wie das Heranziehen der Kinder zur frühzeitigen Erwerbsthätigkeit störend auf deren geistige und körperliche Entwicklung einwirkt, und beseelt von dem Wunsche, die ihnen anvertrauten Kinder gegen derartige übermäßige Belastung zu schützen, haben sie an verschiedenen Orten sehr wichtige und lehrreiche Erhebungen über den Umfang der Erwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder veranstaltet. Unter diesen für das Volkswohl so bedeutungsvollen Arbeiten ist Wohl am ausführlichsten die Statistik, die der Kreisschulinspektor Dr. Wehrhahn in Hannover in den ihm unterstellten Schulen hat aufnehmen lassen. Aehnlich wie in Hannover wird es um diese Sache auch in anderen deutschen Großstädten bestellt sein, und darum geben wir im nachstehenden einige Auszüge aus jener Statistik, die in einer Flugschrift von dem Lehrer Fr. Garbe in Hannover bearbeitet wurde.

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Zustände unter den Knaben Die Statistik erstreckt sich über 158 Knabenklassen mit 9235 Schülern, und darunter waren nicht weniger als 1094 oder 12 Prozent der Gesamtheit Erwerbsschüler. Die Art und Weise, in welcher man diese Knaben zum Geldverdienen heranzog, war verschieden; manche von ihnen hatten mir leichte Aushilfe zu leisten; immerhin wurden 304 Knaben in der Woche an 7 Tagen und 366 Knaben an 6 Tagen beschäftigt. Am frühen Morgen vor dem Schulbesuch wurden 122 Schüler zur Arbeit herangezogen, bis abends 10 Uhr mußten 53 und bis abends 11 Uhr 123 Schüler arbeiten. Die mehr als tausendköpfige Schar dieser kindlichen Arbeiter verdiente in einem Jahr zusammen 67 620 Mark; ein Schulknabe durchschnittlich 62 Mark.

Die 122 Schüler, welche morgens vor der Schule dem Gelderwerbe nachgingen, wurden mit Brotaustragen, Zeitungaustragen und Trottoirreinigung beschäftigt; sie mußten im Winter spätestens um 6 Uhr, im Sommer spätestens um 5 Uhr aufstehen und durften kein Wetter scheuen! Und viele von ihnen waren erst sechs bis neunjährige Knaben! „Die 53 und 123 Schüler, deren Arbeit bis 10 und 11 Uhr abends dauert,“ schreibt unser Gewährsmann, „werden fast ausnahmslos als Kegeljungen beschäftigt. Sie sind ganz beklagenswerte Kinder. Nachdem sie drei, vier, auch fünf Stunden hintereinander Kegel aufgestellt in staubiger Luft, einiges Bier dazu getrunken, die Kegelbahn nach Beendigung des Kegelns gesäubert haben, kommen sie erst um 12 Uhr oder später zur Nachtruhe und sollen am andern Morgen nur 7 Uhr frisch in der Schule erscheinen. Wie die Unglücklichen sich abmühen, sich während des Unterrichts wach zu halten, weiß nur der Lehrer, welcher sie in der Klasse hat.“ Freilich zählt diese Beschäftigung zu den einträglichsten; hat doch einer dieser Kegeljungen monatlich 30 Mark verdient; aber der sittliche Schaden ist bei ihr auch der größte. Diese Kinder erhalten von den Eltern einen Teil des Erwerbes zur freien Verfügung und geraten damit nur zu häufig auf Abwege. Es hat sich auch gezeigt, daß Schüler, die einige Jahre hindurch 200 Mark mit Kegelaufsetzen verdient hatten, keine Lust verspürten, nach der Konfirmation eine geordnete Lehrzeit von 3 Jahren durchzumachen, während welcher sie nichts verdienten. Daß die übermäßige Belastung der Schüler mit Erwerbsthätigkeit sowohl ihre Gesundheit wie ihre Fortschritte in der Schule beeinträchtigte, wurde durch die Statistik gleichfalls festgestellt.

Die Schulmädchen befinden sich nach den Erhebungen unseres Gewährsmannes in günstigerer Lage. Von 8566 Schülerinnen waren mir 526 oder 6 Prozent der Gesamtheit Erwerbsschülerinnen. Morgens vor der Schule wurden 60 beschäftigt, abends bis 10 Uhr nur 9 und bis abends 11 Uhr nur 1 Schülerin. Das Kinderwarten bildete dabei den Erwerb von 186 Mädchen, während 105 Zeitungen austrugen und 34 Hausarbeit besorgten. Im Durchschnitt verdiente ein Schulmädchen jährlich 36 Mark; bei vielen aber konnte nicht nachgewiesen werden, wie viel sie verdienten, weil sie für Kost, Kleidung und Geschenke arbeiteten. Aber auch bei den Mädchen zeigten sich wie bei den Knaben die verderblichen Folgen der Erwerbsthätigkeit. In der Schule waren nahezu 40 Prozent der Erwerbsschülerinnen nicht befriedigend, während es unter normalen Verhältnissen kaum 10 Prozent sein würden.

Wie offenkundig auch die Schäden dieses frühzeitigen Gelderwerbes sind, so ist es doch nicht gut möglich, ihn den Schulkindern ganz und gar zu verbieten, da viele kleine Haushaltungen gezwungen sind, selbst ihre Kinder zur Erwerbsthätigkeit heranzuziehen. Die letztere sollte jedoch nicht ausarten und der Staat hat wohl das Recht und die Pflicht, diese kleinsten der Arbeiter vor übermäßiger Belastung und Ausbeutung zu schützen. Vor allem sollte es nicht gestattet sein, Schulkinder früh morgens vor dem Schulbesuch und spät abends bis in die Nacht hinein zu beschäftigen, und namentlich sollte das für die sechs- bis zehnjährigen Schüler gelten.

Hier und dort sind schon solche Verbote erlassen worden. Neben dem Staat kann aber auch die Gesellschaft gegen verschiedene Ausschreitungen auf diesem Gebiete eintreten. Die zahlreichen Kegelgesellschaften sollten z. B. nicht dulden, daß Schulknaben in späten Abend- oder gar Nachtstunden als Kegeljungen beschäftigt werden. Wir möchten ihnen dringend empfehlen, diese Kegeljungenfrage vom pädagogischen und menschlichen Standpunkte einer gründlichen Prüfung unterziehen zu wollen. Schon durch ein solches Vorgehen könnte viel Unheil verhütet werden!


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0779.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2023)