Seite:Die Gartenlaube (1896) 0758.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

beständig unter den „Linden“ promenierte, dann hätte das – mit dein Examen – nicht passieren können!

Der Oberst wandte sich wieder zurück. „Sieh, Kind, hier gehst Du die Straße in die Höhe, am Ende der ,Linden’ siehst Du das Denkmal des Alten Fritz, und das Palais, vor dem das Standbild steht, war unseres alten Kaisers Wilhelm Wohnung. In gerader Richtung weiter - - “

„Ach, Papachen, weiter werde ich nicht gehen. Ich bleibe immer unter den ‚Linden’. Du sollst nicht in Sorge sein, daß ich mich verlaufen könnte. Bis zum Mittagessen bleibe ich dort. Alle Welt sagt, da sei es am schönsten, warum soll ich also weiter gehen?“

Sie begannen das Frühstück und der Oberst sagte behaglich: „Nun, bis zum Königlichen Schlosse kannst Du’s schon wagen; den Weg zu verfehlen ist unmöglich - Lustgarten - Museum und nebenan die Nationalgalerie. Du kannst getrost dort hinein gehen, hast ja Zeit bis um fünf Uhr, so lange wirst Du unter den ‚Linden’ nicht bleiben. – Sieh einmal her, Annie – dieses hier rechts ist die Friedrichstraße. Gleich zu Anfang ist eine Damenkonditorei – Buchholz, wenn ich nicht irre – dort nimmst Du um zwölf Uhr eine Tasse Chokolade und sonst was Gutes. Meine Schwestern haben dort auch oft gesessen, und im übrigen, wenn Du müde bist, kehrst Du ins Hotel zurück und erwartest mich hier. In keinen: Falle entferne Dich zu weit.“

„Mache Dir keine Gedanken um mich, Papachen. Ich bin ja kein Backfisch, der zu Schaden kommen kann. Es wird herrlich sein, so ungestört Berlin anzusehen! Punkt fünf Uhr treffen wir dann hier zusammen und Du bestimmst das weitere.“

„Gut, Kind! Nach dem Essen gehen wir in die Oper!“ Er erhob sich. „Doch eh’ Du jetzt aufbrichst, höre, trink’ noch eine Tasse Kaffee und iß noch ein Brötchen! Du hast ja Zeit“ er sah nach der Uhr – „volle sechs Stunden! Und damit Gott befohlen!“

Er schnallte den Säbel um, setzte den Helm auf. „Adieu, Annie, viel Vergnügen!“ Und sporenklirrend, doch den Säbel an sich ziehend, schritt er zum Zimmer hinaus, über den langen Korridor und die Treppe hinunter. Sie beugte sich vor und lauschte ihm nach, und wie der Ton verhallt war, der ihn begleitete, trank sie gehorsam eine zweite Tasse, sprang dann auf und eilte in ihr Zimmer, um Toilette für den heutigen großen Tag zu machen.

So umständlich war es dabei schon lange nicht zugegangen, obwohl Fräulein Annie mit vor Eile zitternden Fingern die Frisur ausführte, die Schleifen band und die Handschuhe straff zog. Immer wieder kehrte sie an den Spiegel zurück, ordnete die Löckchen noch ein wenig und warf einen bedauernden Blick auf ihre in dem hohen Wandspiegel so gar winzig erscheinende Gestalt.

Endlich war diese wichtige Frage erledigt, und sie eilte mit einer Hast die Wilhelmstraße hinunter, als erwartete sie an der Ecke der „Linden“ schon der, für den sie sich so sorgfältig geschmückt. Es war ihr nun fast feierlich zu Mute in der Erinnerung, wie oft und viel sie hierher gedacht hatte. Als sie in die prächtige Straße einbog, die jetzt in dem ersten frischen Frühlingsgrün einen köstlichen Anblick darbot, wallte die Sehnsucht, mit der sie sich im Geiste früher an diese Stelle versetzt, mächtig in ihr auf.

Langsamen Schrittes ging sie die rechte Straßenseite entlang, immer mit ihren Blicken das ganze Bild umfassend. Die wunderbaren Edelsteinauslagen, die neuesten Pariser Moden, die man in den Schaufenstern bewundern konnte, kosteten ihr kaum mehr als einen flüchtigen Blick, das Ganze, das in ihren Gedanken den Rahmen für eine so innig und zärtlich geliebte Gestalt ausmachte, interessierte sie viel zu sehr, als daß ihr Sinn durch Frauenputz gefesselt werden konnte. Jedes Haus, jeder Baum, jeder Stein gehörte mit zu diesem Rahmen. Hier: Café Bauer – auch das hatte Elfe damals genannt, wie entzückend es ihr erschien! – Man hatte die Fenster bereits zu Eingängen umgestaltet und durch die weiten, nur wenig von den Pomeranzenbäumen verkleinerten Oeffnungen sah sie ungehindert in den Raum. Die Frühlingssonne beschien das Pflanzenboskett, das die Mitte desselben einnimmt, und übergoß die fließenden Wasserstrahlen der Fontäne mit schimmerndem Glänze, während sie die Farbenpracht der von Meisterhand gemalten Wand- und Deckengemälde hell aufleuchten ließ.

Sie war stehen geblieben und schaute mit erstaunten Augen hinein, ahnungslos, daß sie selbst der Gegenstand der Beachtung geworden war. Erst als der junge Herr, der dem Eingänge zunächst an einem runden Tischchen, eine „Schwarze“ schlürfend, saß, das Monocle fallen ließ und mit einem selbstbewußten Lächeln Miene machte, sich ihr zu nähern, merkte sie etwas davon, errötete und ging rasch weiter. Den Alten Fritz und das Palais unseres alten Kaisers sah sie aufmerksam an, denn sie wußte es, danach würden Papa und die Brüder zuerst fragen, aber ihre Blicke schweiften dabei doch immer wieder die „Linden“ entlang, und wie magnetisch von diesen angezogen, ging sie wieder denselben Weg zurück. Und wieder und abermals und zum vierten- und fünftenmal! Bei „Buchholz“ einzutreten, konnte sie sich nicht entschließen, es war ja so weit ab von dem Platze, den sie in ihrem Innern allein als „Berlin“ bezeichnete, und bei Kranzler saßen jetzt in der Mittagsstunde so viele Menschen, meistens sogar nur Herren, auf der schmalen Freitreppe und in dem engen Salon – wie sollte sie da wegen eines Stückchens Kuchen hineingehen? – Und dann – konnte sie nicht auf diese Weise leicht das Beste, was die Residenz ihr zu geben hatte, verpassen? – So wanderte sie weiter, immer müder wurde ihr Blick, immer langsamer ihr Schritt, an den Schaufenstern machte sie immer längere Stationen, und als es drei Uhr – dann vier und jetzt schon halb fünf Uhr schlug, bemächtigten sich ihrer quälende Zweifel und dann eine tiefe Traurigkeit. Ach, sie war vergebens hierher gefahren - die Sehnsucht ihres Herzens sollte ungestillt bleiben – das Wiedersehen, nach dem allein sie Verlangen trug, gönnte ihr das Schicksal nicht! Wie wenig kümmerte sie das großstädtische Menschengewühl, wenn der Eine drin fehlte! Die Gardeducorps waren vorbeigezogen mit klingendem Spiel, Karossen mit wundersam geschmückten Frauen im Fond rollten geräuschlos über den Asphalt des Fahrdammes, Reklamewagen und Reklameträger, Kavalkaden von Herren und Damen auf stolzen Rossen, Zeitungsverkäufer und Blumenmädchen, die ihr ganze Bündel von Maiblumen und Veilchen entgegenreichten nichts erweckte jetzt mehr ihr Interesse. Schleppenden Ganges, abgespannt und hoffnungslos schleicht sie daher – in fünfzehn Minuten sind die sehnlichst herbeigewünschten Stunden, denen sie mit solcher grenzenlosen Freude entgegengesehen hat, vorüber - was haben sie ihr gebracht? – Wie will sie es fertig bringen, dem Vater ihre Stimmung zu verbergen, wie es verdecken, daß von dem Interesse, das sie Berlin entgegengebracht, jetzt schon nichts, aber mich gar nichts mehr vorhanden ist? …

Nun ist auch die Wilhelmstraße erreicht. Sie kann fast nicht mehr vorwärts, der Mangel an Nahrung, die stundenlange Bewegung in der Frühlingsluft haben ihre Kräfte verzehrt, aber sie wendet den Kopf doch noch einmal rückwärts, den „Linden“ zu, als sie in die andere Straße einbiegt, und wird deshalb von einigen jungen Herren, die, aus dem „Hotel Royal“ tretend, unter munterem Geplauder ihre Cigarren in Brand setzen und auf diese Weise auch nicht vorwärts sehen, fast umgestoßen. Der eine, der sie gestreift, murmelt einige entschuldigende Worte und lüftet etwas nachlässig den Hut, der andere dreht sich herum und sein Blick fällt auf das junge Mädchen. Er stutzt – besinnt sich und ist mit zwei Schritten neben ihr.

„Fräulein von Giersbach! – Gnädiges Fräulein, Sie sind’s, ich traue meinen Augen nicht! – Welche Freude! – Aber was ist Ihnen? – Hat man Sie verletzt, hat man Ihnen wehe gethan?“ Und Referendar Brückner wirft einen Blick voll Entrüstung auf seinen bisherigen Begleiter. „Dieser Tollpatsch! -

Sie sind ja ganz weiß geworden – kann ich Sie stützen?“ Er greift ohne Umstände nach ihrer Hand und zieht sie durch seinen Arm. „Lehnen Sie sich nur fest auf mich, dann wird’s schon gehen.

Aber, wo soll ich Sie hinführen – wo sind Sie hergekommen?“

„Papa reiste auf zwei Tage nach Berlin und nahm mich mit, Herr Referendar; wir wohnen hier im ,Reichshof’ – und da wollte ich mir doch auch ein wenig die ‚Linden’ ansehen.“

„So – und sie haben Ihnen gefallen? Ja! Wie mich das freut! – Und wie ist’s Ihnen ergangen? Immer flott und frisch gewesen, nicht wahr, immer viel getrubelt und getanzt? Kann’s mir ja denken, wie’s daheim zugeht!“

„Ich weiß nicht, ob es so gewesen ist. Ich habe nicht viel getanzt, und die andern –“

„Ach, die andern kümmern mich eigentlich gar nicht,“ unterbrach er sie, „aber daß Sie frisch und fröhlich sind, das sehe ich mit Freuden.“ Und er sah mit unverhohlenem Entzücken in die

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 758. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0758.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2016)