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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ein hundertjähriger Veteran von 1813. (Mit dem untenstehenden Bildnis.) Im Laufe dieses Sommers feierte einer der wenigen Veteranen aus den Befreiungskriegen, die noch unter uns weilen (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1895, Seite 154 und 179), das seltene Fest seines hundertsten Geburtstages. Der würdige Greis, dem Gott eine eiserne Gesundheit geschenkt hat, heißt August Hering und wohnt gegenwärtig bei seinen Verwandten in Merseburg. Am 25. Juli 1796 erblickte er das Licht der Welt als Sohn des Gärtners und Försters Hering auf dem Rittergute Niegripp im Kreise Jerichow. Frühzeitig verlor er seine Mutter und kam nach deren Tode nach Burg bei Magdeburg, wo er die Bürgerschule besuchte und das Tischlerhandwerk erlernte. Im Jahre 1813 folgte der sechzehnjährige Jüngling dem Rufe seines Königs und nahm an der Erhebung des deutschen Volkes gegen Napoleon teil, indem er unter die Schützen des Landstnrm-Bataillons Burg trat. Er stand im Felde bei der Belagerung von Magdeburg und im siegreichen Treffen bei Möckern (Kreis Jerichow) am 5. April 1813. Später diente er beim 31. Regiment in Erfurt, wo er zum Feldwebel befördert wurde. Am 1. Januar 1834 trat Hering aus dem stehenden Heere aus und wurde zum Gendarm in Kösen ernannt. Neunzehn Jahre harrte er auf diesem Posten aus, bis er sich infolge körperlicher Leiden pensionieren ließ und nunmehr als Abschätzungs- und Versicherungskommissar der Landesbrandkasse der Provinz Sachsen beschäftigt wurde. 1879 mußte er auch aus dieser Stellung scheiden. Kaiser Wilhelm I. bewilligte dem alten Veteranen einen Zuschuß zu der Pension, so daß er an seinem späten Lebensabend von Nahrungssorgen frei ist. Der hundertjährige August Hering erfreut sich noch einer regen geistigen Frische; er kann ohne Brille lesen und nimmt lebhaften Anteil an den Zeitereignissen. Möge ihm diese Freude am Leben noch lange erhalten bleiben! *      

In der Ramsau. (Zu dem Bilde S. 721.) Ein kleines, aber von der Natur verschwenderisch mit landschaftlicher Schönheit ausgestattetes Alpenthal, zieht sich die Ramsau westlich aus dem prachtvollen Berchtesgadener Thalkessel ins Waldgebirge hinauf. Sie darf nicht verwechselt werden mit der steiermärkischen Ramsau, die an den Südabhängen des Dachsteingebirges entlang zieht. Auch in Ober- und Niederösterreich kommt der Name Ramsau vor. Die bayrische Ramsau, der unser Bild entnommen ist, hat eine Länge von etwa fünf Stunden; sie ist an ihren breitesten Stellen keinen Kilometer weit, größtenteils schluchtartig schmal. Die Nordseite dieses Thales bilden sanft abfallende, überaus reich bewaldete Höhen, an deren sanfteren Gehängen einsame Bauernhöfe liegen; an der Südseite dagegen steigen über finsteren Bergwäldern riesenhafte weißgraue Felsenberge empor: der Watzmann und der Hochkalter. Den westlichen Thalschluß bilden die – auf unserem Bilde sichtbaren – in grimmiger Steilheit aufragenden Mühlsturzhörner. Was der Ramsau ihren landschaftlichen Reiz verleiht, sind ihre prachtvollen Ahornhaine, die umhergestreuten Felsblöcke, der durch Schluchten und über Trümmergestein herabtosende Wildbach, üppig grünende Matten, über welche zahllose krystallhelle Wasser herabrieseln, und die schöngeformten Felsmauern der über all’ das aufragenden Berge, die – je nach der Bewölknng und Beleuchtung – bald silbergrau oder goldgelb, purpurn oder tief indigoblau erscheinen können. Im oberen Teile des Thales liegt, weltverloren und still, der Hintersee mit seiner klaren tiefgrünen Flut, in welcher die schroffen Felshörner des Hochkalters und die breite Wand des Reuteralpgebirges sich spiegeln. Die spärliche Bevölkerung des Thals ist ein tüchtiger stiller und ernster Schlag Menschen, der sich, da Ackerbau im ganzen Thale sehr wenig getrieben werden kann, fast nur von Sennereiwirtschaft und von der Holzarbeit in den mächtigen Staatswaldungen ernährt. Max Haushofer.     

Der Veteran August Hering.
Nach einer Photographie von F. Herrfurth in Merseburg.

Morgenandacht. (Zu dem Bilde S. 712 und 713.) Es ist der einfache niedrige Saal eines Mädcheninstituts, in welchem die Morgenandacht stattfindet, die uns der Maler belauschen läßt. Die jungen Mädchen, ihrer Tracht nach Holländerinnen, singen ihren Psalm mit heller Stimme, wohlgemut trotz des gebotenen Ernstes. Vor ihnen liegt ja die Zukunft mit ihren Hoffnungen, und in ihren Adern kreist fröhliches Jugendblut. Die alte Vorsteherin sitzt still im Lehnstuhl, hört dem Gesange zu und denkt ferner Tage, da auch sie erwartungsvoll dem schönen, verheißenden Leben entgegensah. Wieviel es ihr gehalten hat? … Die Kummerfalten und die weißen Haare geben Antwort darauf. Aber dennoch – sie blickt friedvoll und versöhnt auf das junge Leben um sie her, dessen Morgenrot freundlich ihren eigenen Abendschatten durchleuchtet, und ihre still resignierte Haltung mahnt an Hölderlins Worte:

„In jungen Tagen war ich des Morgens froh,
Des Abends weint’ ich; jetzt, da ich älter bin,
Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und heiter ist mir sein Ende.“ Bn.     

Zu Hause, in der Gesellschaft und bei Hofe. Unter diesem Titel veröffentlicht H. von Düring-Oetken im Verlag von Pfenningstorff in Berlin ein ganz eigenartiges Werk: ein Spiegelbild der Gesellschaft voll guter Erziehung in allen ihren Lebensverhältnissen, anmutig und interessant zu lesen und lehrreich sogar für solche, die im allgemeinen keiner Unterstützung ihrer Umgangsformen durch Bücher über den guten Ton zu bedürfen glauben. In solchen, auf dem Grund der alten „Komplimentierbücher“ erwachsenen Werken werden ja meist nur die Grundregeln der Schicklichkeit angegeben, welche jedem leidlich erzogenen Menschen geläufig sind, hier aber handelt es sich um die höheren Aufgaben einer schönen Geselligkeit, um die vielen scheinbar kleinen Dinge, deren Anwendung oder Unterlassung den Ton eines ganzen Kreises charakterisieren. Die vollkommene freie und schöne Sicherheit des Benehmens, die zur zweiten Natur gewordene gute Form sind seltene Zierden. Wer nicht so glücklich war, sie als Erbteil einer günstigen Familientradition mitzubekommen, der hat viel Beobachtung und Selbstschulung nötig, um sie sich anzueignen. In dem vorliegenden Buch findet er nun die vortreffliche, welt- und gesellschaftskundige Führerin, welche in ungezwungener und doch erschöpfender Weise alle Fälle des geselligen Lebens vorführt. Wie man häusliche Ereignisse und Feste feiert, in welchen Formen man einlädt und zu- oder absagt, wie die große und kleine Geselligkeit zu führen ist, welche Rücksichten bei Besuch, Anmeldung und Empfang zu walten haben, das Benehmen auf der Straße, im Theater, auf dem Ball, im Gasthof, auf Reisen – alle die vielen kleinen Zweifelfälle, in welche auch der wohlerzogene Mensch beim Eintritt in die große Welt kommen kann, sie finden hier ihre mustergültige Entscheidung. Der Abschnitt „Am Hofe“ giebt das gesamte Ceremoniell für die dabei beteiligten Kreise, aber auch den guten Rat für solche, die gelegentlich mit Fürsten in Berührung kommen, und die brieflichen Titulaturen. Unsere praktische Zeit neigt zu einer gewissen Nichtachtung der guten Umgangsformen, die Folgen aber zeigen sich oft genug in der Verrohung des gesellschaftlichen Tons. Ein Buch wie das vorliegende ist deshalb von hohem Wert; es eignet sich seiner zierlichen Ausstattung nach vortrefflich zu Geschenken und wird sicher für viele ein willkommener Familienbesitz werden. A.     

Ein Nimmersatt. (Zu dem Bilde S. 717.) Hermann Kaulbach, der Schilderer so mancher gemütlichen Kinderscene, führt uns hier zur Abwechslung einmal eine recht ungemütliche vor, eine wahre Schmälznudeltragödie, in welcher der gewissenlose Usurpator nach dem Grundsatz „Selber essen macht satt!“ die gefüllte Pfanne festhält, während die enttäuschten Kleinen mit traurigen Gesichtchen herumsitzen und starr die appetitlich lockende Nudel betrachten, die der naschhafte kleine Dicksack mit so viel Behagen verspeist. Hoffen wir, daß die tragische Gerechtigkeit ihn ereilt, ehe er sich an die zweite und dritte machen kann: mütterliche Prügel könnten dem Schlingel nicht schaden, den übrigens der Künstler doch so hübsch und frisch auf die Küchentreppe gesetzt hat, daß man ihn mit demselben Vergnügen betrachtet wie seine der Natur so glücklich abgesehenen Geschwisterchen. Bn.     

Reineke in Nöten. (Zu dem Bilde S. 709.) Ein Prachtkerl ist es, der da oben auf der alten Weide sitzt und forschenden Blickes über die weite Flut hinausspäht, ein Goldfuchs mit weißer Kehle und weißer Schwanzspitze oder, wie es in der Jägersprache heißt, mit weißer Blume an der Rute; aber trotz des kostbaren Pelzes ist es doch ein echter und rechter Lumpaci-Vagabundus. Vor achtundvierzig Stunden hatte er ein neues Jagdrevier aufgesucht und darin gepirscht kreuz und quer, bis er gar müde wurde vom Rennen und Fressen und in dichtem Gebüsch sich zur Nachtruhe niederlegte. Er schlief den festen Fuchsschlaf, aus dem so mancher Reineke erst durch den Hagel des Schützen oder den Knüppel des Treibers geweckt wird. Hoch stand schon die Sonne am Himmel, als der Goldfuchs erwachte und bedächtigen Schrittes sich zu neuem Vagabundieren anschickte. Doch siehe da, über Nacht hat sich die Landschaft verändert. Wo gestern grüne Wiesen im Sonnenschein sich dehnten, glitzert heute eine weite Wasserflut. Reißend schnell ist das Hochwasser gekommen und seine Wellen umspülen die kleine Anhöhe, auf welcher unser Reineke genächtigt hat. Da sitzt er ernst und sinnend und wartet in der Hoffnung, das feindliche Element werde ebenso schnell verlaufen, wie es gekommen ist. Aber wie arg wird er getäuscht! Höher und höher steigt die Flut und bedrängt nicht nur die Menschen in ihren Behausungen, sondern auch die Tiere in Wald und Flur. Leichte Wellen rieseln schon über seine Zufluchtsstätte und die höchste Wassersnot bricht über den Goldfuchs ein. In der Ferne am Waldesrande entdeckt jedoch sein scharfes Auge eine Anhöhe, die aus dem Wasser emporragt und auf der eine bunte Tiergesellschaft sich versammelt hält. Er erkennt Hirsche und Rehe und auch langohrige Lampegestalten. Ein „Rettungsberg“ ist es, den tierfreundliche Förster für das Wild im Ueberschwemmungsgebiet errichtet haben! Sichere Hoffnung belebt nun den schlauen Reineke, bald ist ein Schwimm- und Wateplan entworfen, und beherzt stürzt er in die Flut. Eine alte Weide bietet ihm ein Ruheplätzchen, auf dem er Kräfte zu weiterem Schwimmen und Waten sammeln kann. Der größte Teil des beschwerlichen Weges ist bereits zurückgelegt worden und zuversichtlich blickt Meister Reineke nach dem Rettungsberg. Bald wird auf ihm auch der Räuber friedlich unter Hasen und Rehen seinen Pelz trocknen, denn die große gemeinsame Not bringt auch die angebornen Feindschaften in der Tierwelt zum Schweigen. *      


Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (4. Fortsetzung). S. 709. – Reineke in Nöten. Bild. S. 709. – Morgenandacht Bild. S. 712 und 713. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Neue Bahnen. S. 711. Mit Abbildungen S. 714, 715 und 716. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (18. Fortsetzung). S. 716. – Ein Nimmersatt. Bild. S. 7l7. In der Ramsau. Bild. S. 721. – Skizzen aus deutschem Frauenleben in fremden Zonen. Ein Haushalt in Argentinien. Von Hertha Ika. S. 722. – Blätter und Blüten: Alt-Frankfurter Sprichwörter. S. 723. – Ein hundertjähriger Veteran von 1813. Mit Bildnis. S. 724. – In der Ramsau. Von Max Haushofer. S. 724. (Zu dem Bilde S. 721.) – Morgenandacht. S. 724. (Zu dem Bilde S. 712 und 713) – Zu Hause in der Gesellschaft und bei Hofe. S. 724. – Ein Nimmersatt. S. 724. (Zu dem Bilde S. 717.) – Reineke in Nöten. S. 724. (Zu dem Bilde S. 709.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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