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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Gewöhnlich lauten die Annoncen, wie folgt: „Herr Brown, der berühmte Sportprophet, sandte letzte Woche seinen Abonnenten 20 Gewinner in 25 Rennen etc.“ Natürlich ist diese Angabe nicht wahr; aber das Publikum glaubt sie doch und sendet Herrn Brown seine Goldstücke. Als die Sportblätter der besseren Klasse sich weigerten, Annoncen dieser Art weiterhin aufzunehmen, wußten die „tipsters“ auch diesen Schlag zu parieren. Jetzt überfluten sie jeden Hauseigentümer, dessen Name im offiziellen Postnachschlagebuche erscheint, mit ihren Cirkularen. Bemerkenswert ist, daß das schöne Geschlecht nicht wenig zum Erfolge der „tipsters“ beiträgt; unter ihren Abonnenten befinden sich zahlreiche Damen! Was die Kniffe anbetrifft, so wurde wohl der beste von dem Propheten geleistet, der in den Zeitungen ein Heiratsgesuch erließ, das angeblich von einer jungen Dame mit einer Mitgift von 100 000 Pfund Sterling herrührte. Jeder Heiratskandidat erhielt von der angeblichen Erbin – das Cirkular des „tipsters“!

Jedes der großen englischen Tagesblätter widmet täglich dem Rennsport mehrere Spalten, und jede Zeitung hält sich ihren „Pferdepropheten“, der die mutmaßlichen Sieger in den Rennen tags zuvor voraussagt. Zuweilen werden diese Artikel von Jockeys geschrieben, die als Fachleute die „Form“ der Renner am besten zu beurteilen imstande sind. Die Abendblätter machen es sich zur besonderen Pflicht, ihren Lesern das neueste von der Rennbahn mitzuteilen, und ihre Spezialausgaben finden reißenden Absatz, da gegen fünf Uhr das Resultat der Wettrennen bekannt wird. Wenn die Zeitungsjungen um diese Stunde mit ihren Blättern und dem schrillen Rufe: „All the winners!“ („Sämtliche Gewinner!“) durch die Straßen eilen, dann wird es einem erst recht klar, wie sehr der Engländer am Wettfieber leidet. Die Jungen verkaufen ihre Bündel im Handumdrehen; die Käufer aber schauen nur in die Sportsspalte und werfen dann das Blatt weg; der übrige Inhalt hat kein Interesse für sie. Selbst die Sonntagsruhe, die dem Engländer doch so heilig ist, wird z. B. bei Gelegenheit des Pferderennens um den „Grand prix de Paris“ durch die Rufe der Zeitungsverkäufer entwürdigt. Um diesem Treiben ein Ende zu machen, hat sich eine Antiwettgesellschaft gebildet, die selbst gegen den mächtigen Jockeyklub, dem der Prinz von Wales angehört, zu Felde zog, aber nichts ausrichtete und nur zur Folge hatte, daß sich die Sportsmänner ihrerseits zusammenthaten und eine „Sportingliga“ ins Leben riefen, die den Schutz des Sports bezweckt. Und da England nun einmal das gelobte Land der Vereinssüchtigen ist, entstand über Nacht ein dritter Verein, der die „Wahrung der Interessen der Buchmacher“ auf seine Fahne geschrieben hat. Es bedarf wohl kaum der Vereine, um den englischen Nationalsport und die englische Wettsucht zu schützen – die große Mehrzahl der Engländer huldigt beiden.


Das Geburtshaus der Brüder Grimm.

Von Louise Gies.

In dem Augenblick, da Hanau a. M., die Geburtsstadt der Brüder Grimm, sich anschickt, das diesen gewidmete Denkmal feierlich zu enthüllen, werden vielleicht auch weitere Kreise gerne erfahren, wann und wie das Geburtshaus Jacob und Wilhelm Grimms zuerst aufgefunden wurde.

Bis zum Jahre 1858 hatte man sich nämlich merkwürdigerweise selbst in Hanau wenig mit demselben beschäftigt; allgemein galt dafür ein in der Langstraße gelegenes einstöckiges Wohnhaus, welches sich in den fünfziger Jahren im Besitz des Sanitätsrates Dr Gies, meines Vaters, befand.

Es lebten damals noch genug alte Leute, die sich zu erinnern glaubten, daß der Herr „Stadtschreiber Grimm“ (der Vater des Brüderpaares) zu Ende des vorigen Jahrhunderts mit Frau und kleinen Kindern in dem besagten Haus, Langstraße Nr. 41, gewohnt habe. Und dabei hatte man sich beruhigt.

Nun war in den fünfziger Jahren, nachdem das verflossene, stürmisch-politische Jahrzehnt zur Ruhe gekommen, ein besonders reges wissenschaftliches Leben und Streben erwacht; der erste Band des Grimmschen Wörterbuches war erschienen, und die Augen der gesamten gelehrten und gebildeten Welt waren darauf gerichtet. So mußten die Brüder Grimm eines schönen Abends wohl besonders lebhaft in dem „Litterarischen Verein“ zu Hanau besprochen worden sein, denn die Verhandlung endigte damit, daß meinem Vater viel scherzhafte Vorwürfe gemacht wurden, wie er die Ehre, das Geburtshaus der Brüder Grimm zu besitzen, gar nicht hoch genug anschlage, wie es eigentlich an ihm sei, etwas zu deren Verherrlichung zu thun u. s. w.

„Daran soll’s nicht fehlen,“ sagte mein Vater, und da es gerade Anfang Dezember des Jahres 1858 war, so wurde beschlossen, zunächst am kommenden 4. Januar 1859, dem Geburtstag Jacob Grimms, abends über unserer Hausthür ein erleuchtetes Transparent anzubringen mit der Inschrift: „In diesem Haus wurde am 4. Januar 1785 Jacob Grimm geboren.“

Es dauerte auch nicht lange, da stand das Transparent fix und fertig in unserer Hausflur, war eingepaßt in den Rahmen über der Hausthür, und nichts fehlte, bis auf die Kerzen zur Beleuchtung. Ich fühle noch den Stolz und das Entzücken, womit insbesondere wir Kinder dem großen Tag entgegensahen, wie wichtig wir uns allen anderen Menschen gegenüber vorkamen. Wie bitter sollten wir enttäuscht werden!

Es war nur noch kurz vor dem festlichen Tag, als eines Abends ein Freund meines Vaters, Doktor Jung, hastig angestürzt kam mit der Botschaft:

„Doktor, es ist ein Irrtum, die Grimms sind nicht in Ihrem Haus geboren. Wir haben noch einmal nachgeforscht und eine alte Base der Familie Grimm aufgefunden, ein Fräulein Höhn, welches ausgesagt hat, ihr Vetter, der Herr Stadtschreiber Grimm, habe zuerst mit seiner jungen Frau an dem Paradeplatz in dem jetzigen Polizeigebäude gewohnt, und hier seien die älteren Söhne Jacob und Wilhelm geboren. Erst später sei die Familie in Ihr jetziges Haus gezogen.“

Man denke sich unseren Schrecken! Aus allen Himmeln waren wir jungen Leute gefallen! Das schöne Transparent, die festliche Beleuchtung, die gaffende Volksmenge, die große Ehre, die wir geträumt hatten: alles stürzte wie ein Kartenhaus zusammen!

Mein Vater war indessen nicht der Mann, eine solche Sache leichten Kaufs aus der Hand zu geben. Gewohnt, jedem Ding auf den Grund zu gehen, entschied er alsbald: „Es wird an Jacob Grimm selbst geschrieben und um Auskunft gebeten. Heute noch schreibst Du mir nach Berlin,“ schloß mein Vater, indem er sich an mich wandte.

Der Brief wurde noch selbigen Tages aufgesetzt, auf rosa Papier abgeschrieben und dann, nachdem ihn mein Vater geprüft hatte, abgesendet. Wenn ich heute noch erröten will über eine Jugendthorheit, dann ziehe ich aus dem verborgensten Fach meines Schreibtisches das sogenannte „Brouillon“ oder Konzept dieses Schriftstückes hervor und lese es durch: naiver ist wohl selten ein großer Mann angeschwärmt worden!

Trotzdem erhielt ich eine Erwiderung, eine eigenhändige und liebenswürdige Erwiderung, die in eingehendster Weise unsere Frage erörterte.

Bei der Enttäuschung blieb’s freilich, denn Jacob Grimm bestätigte, was schon die Base Philippine Höhn erklärt hatte: daß er und sein Bruder in dem großen Haus am Paradeplatz oben (dem heutigen Landratsamt) geboren seien.

Nun war die Sache klar, kein Zweifel mehr möglich, und betrübten Herzens sahen wir das Transparent in eine entlegene Kammer hoch oben im Hause wandern. Es zu vernichten, konnten wir uns doch nicht entschließen.

So hart und bitter uns die Sache ankam, so hatte sie doch für die Öffentlichkeit ihr Gutes; die allgemeine Aufmerksamkeit war rege geworden. Die städtische Behörde nahm die Angelegenheit in die Hand, stellte noch weitere Nachforschungen an, und das Endergebnis war, daß in den folgenden Jahren das Landratsamt zu Hanau feierlichst für das Geburtshaus der Brüder Grimm erklärt und mit einem Medaillonbild geziert wurde, welches – die Initiale oben bietet die Abbildung – die Reliefköpfe Jacobs und Wilhelms zeigt.

Für mich aber schloß sich an jene hübsche (eigentlich traurige) Begebenheit doch noch ein kleiner Briefwechsel mit dem berühmten Mann, der den jugendlichen Ueberschwang der Gefühle übersah und sich an den Kern hielt. Mein Vater ließ eine Photographie des Landratsamtes anfertigen, die ich nebst Kirchenbuchauszügen wieder an Jacob Grimm schicken durfte, nicht ohne ein entsprechendes Geleitschreiben meinerseits. Daran reihten sich freundliche Sendungen von Berlin an mich, Bilder, Reden, die Märchen und vieles andere, Dinge, die mir mit den Jahren mehr und mehr zu Reliquien wurden.

Zum Schluß möchte ich den ersten an mich gerichteten Brief, welcher die Frage des Geburtshauses behandelt, im Wortlaut und in der eigentümlichen Orthographie des Gelehrten mitteilen. Derselbe kantet:

 „Liebe fräulein Luise,
Sie haben mir so zutraulich geschrieben, dasz ich gleich zu der vorstehenden anrede berechtigt bin; ich will auf Ihre frage alles antworten, dessen ich mich entsinnen kann, allerdings bin ich in dem jetzt von Ihnen bewohnten hause, in der langen gasse neben dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0695.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2023)