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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (3. Fortsetzung.)

5.

Darf ich Dich einen Augenblick stören, Papa?“ mit diesen hastig gesprochenen Worten trat Lisbeth, wenige Tage nach dem Balle, in ihres Vaters Arbeitszimmer. Er warf einen Blick in ihr erblaßtes und heftige Erregung verratendes Antlitz und sprang von seinem Stuhle auf.

„Wie siehst Du aus! Ist ein Unglück geschehen?“

„Hoffentlich noch nicht, aber ich möchte eines verhüten.“

„Die Mama!??“

„Nein, nein, Papa! Ich habe traurige Botschaft von Römers.“

„Von Römers? Und da erschreckst Du mich so!“ rief er vorwurfsvoll.

„Es sind meine besten Freunde, Papa. Ihr Leid fühle ich wie ein eigenes.“

„Du bist in diesem Punkt merkwürdig sentimental,“ sagte er kurz, „ich finde, die Mama hat nicht unrecht, wenn sie sich über die Ueberfülle dieser freundschaftlichen Gefühle beschwert. Aber erzähle, was hast Du und was willst Du?“

„Du weißt es wohl, Papa, daß Gertrud seit Montag ein kleines Baby hat. Tante Römer ist zu ihrer Pflege dort. Nun hat diese vorgestern das Unglück gehabt, durch einen Sturz in den Keller das Bein zu brechen, und zu gleicher Zeit fing Gertrud an zu fiebern. Die Dienstboten sind noch fremd am Orte, Gertruds Krankheit steigerte sich rasch und Arnold ist durch sein Amt gezwungen, fast immer im Bureau zu sein. Er schreibt mir völlig verzweifelt über die augenblickliche Lage –“

„Und wünscht, daß Du hinkommst,“ unterbrach sie der Geheimrat.

„Das spricht er nicht aus, ich soll eine Pflegerin besorgen, darum schreibt er. Aber, Papa, ich bin fest entschlossen, ihnen beizustehen und mit dem nächsten Zuge abzureisen, und ich komme, Dich um die Erlaubnis und um Deine Vermittelung in dieser Angelegenheit bei Mama zu bitten.“

„Aber, Lisbeth, was ist das für eine Leidenschaftlichkeit! Ich weiß nicht, ob Mama – –“

„Es sind meine besten Freunde, Papa! Tausendmal bin ich in diesen langen Jahren ihnen das schuldig geworden, und ich werde sie nicht allein lassen, wenn ich ihnen wirklich nützen kann. Denke doch nur, wenn Gertrud stürbe, nie in meinem Leben könnte ich darüber wieder ruhig werden“ – die Thränen stürzten dabei plötzlich über ihre blassen Wangen – „und Tante Römer, wie mag sie in dieser hilflosen Lage leiden!“

Das Mitleid über ihre Ergriffenheit ließ den Geheimrat die schon auf seinen Lippen schwebende Bemerkung über dieses so höchst überflüssige „Tantenverhältnis“ unterdrücken.

„Nun, nun,“ meinte er, „es wird ja so schlimm nicht sein, und was ich thun kann, um Mama zu bewegen –“

„Nein, Papa, gehe noch nicht! Wir müssen uns erst verständigen. Ich reise unter allen Umständen, für mich liegt darin eine Pflicht. Ich bin hier leicht ersetzbar, dort nicht. Ich wäre Mama unendlich dankbar, wenn sie einwilligte, aber –“

„Ah,“ meinte kurz und kühl der Vater, „ich verstehe. Um jenen gefällig zu sein, wärest Du imstande, uns den kindlichen Gehorsam aufzusagen.“

„Papa,“ sie warf sich an seine Brust und umschlang ihn mit den Armen, „hast Du je Ursache gehabt, über mich zu klagen? Versetze Dich jetzt in meine Lage, vertritt dieses Mal meine Interessen, und ich werde gewiß mein Leben lang Dir nie Grund geben, Dich über den Mangel an kindlicher Unterordnung zu beschweren.“

„Du bist so aufgeregt,“ erwiderte jener und wehrte leicht ihre Umarmung ab. „Diese Stimmung soll bei mir zu Deiner Entschuldigung sprechen. Wann willst Du fahren?“

„Der nächste Kurierzug geht um fünf Uhr.“

„So gehe und besorge Dein Gepäck und dann komme zu Mama, ich werde indessen die Sache mit ihr vereinbart haben.“

Als Lisbeth nach einer halben Stunde das Wohnzimmer betrat, fand sie die Eltern noch bei einander. Sie brachen das sehr lebhaft geführte Gespräch ab und der Vater sagte, eine Aussprache zwischen Mutter und Tochter verhindernd, zu ihr: „Mama erlaubt Dir die gewünschte Reise nach D., bedanke Dich bei ihr. Ich will derweil Schmidt nach einem Wagen schicken.“

Lisbeth näherte sich der Mutter, ergriff ihre Rechte und küßte sie, und diese bedeckte ihre Augen mit der anderen Hand und sagte klagend: „Fremden Menschen gehst Du beizustehen und mich lässest Du allein, trotzdem Du die täglichen Arbeiten in unserem Haushalte kennst.“

„Durch Leos und meine Abreise verkleinert sich die Familie fast um die Hälfte, und während seiner Abwesenheit fallen natürlich auch alle größeren geselligen Veranstaltungen bei uns fort – das wird Dir die Zeit erleichtern, Mama!“

„Ach ja, Leos Abreise!“ unterbrach die Mutter sie, „wir wollten heute noch gemeinsam seine Sachen packen.“

„Ich habe es schon gestern abend gethan. Die Bücher- und Wäschekiste ist fertig. So hat er einzig noch seine Kleider in den Koffer zu legen, und das macht er allein.“

„Und welche Kosten werden wieder aus dieser Reise entstehen, während wir wegen Leos Aufenthalt in Berlin doch wirklich Ursache haben, alle unnützen Ausgaben zu vermeiden.“

„Ich werde dritter Klasse fahren, Mama: es ist ja ein Kurierzug, da kann man es ruhig thun.“

Die Frau Geheimrat überlegte sich dieses Anerbieten schnell.

„Du mußt aber ein Zuschlagbillet bis zur nächsten Station lösen, damit Du hier in die zweite Klasse einsteigst. Es könnte jemand, der Dich kennt, am Bahnhofe sein.“

„Ja, gewiß, wenn Du es wünschest, obwohl das Umsteigen nach einer Viertelstunde stets sehr unbequem ist.“

„Darauf kann man keine Rücksicht nehmen. Wirst Du dort erwartet?“

„Nein, es ist bei dem gegenwärtigen Zustande niemand von Hause abkömmlich. Außerdem will ich mich auch nicht anmelden.“

„Das ist auch besser: so weiß es niemand, welche Klasse Du benutzt hast. Bei der Rückfahrt aber, wenn man Dich begleitet, nimmst Du wieder dieses Zuschlagbillet. Hörst Du, Lisbeth?“

„Ja, Mama – aber Römers benutzen immer die dritte Klasse.“

„Was sich für Römers schickt, schickt sich für die Tochter Deines Vaters noch lange nicht, also folge meinen Anordnungen!“

*  *  *

Lisbeth hatte ihre Reise mit der Hoffnung angetreten, den Freunden eine Stütze in der Not zu werden, aber sie ahnte doch nicht, in welchem Maße dies der Fall sein würde. Der erste, dem sie am Abend ihrer Ankunft begegnete, als sie, der Droschke vorsorglich schon am Straßenanfang entstiegen, mit ihrem Handgepäck beladen, beim trüben Schein der Laternen nach der Hausnummer suchte, war der eben aus dem Hause tretende Arnold. Er drückte ihr tiefbewegt die Hände, zu vielen Worten war nicht Zeit, und führte sie gleich hinein zu seiner Mutter, die im Gefühl ihrer hilflosen Ohnmacht und in der Angst um Gertrud seelisch noch stärker litt als durch die Schmerzen des gebrochenen Beines, obgleich auch diese quälend genug waren.

Auch sie begrüßte Gertruds Kommen wie das eines rettenden Engels vom Himmel, und es war leicht zu sehen, wie Lisbeths sofortiges Eingreifen und ihre geschickte zärtliche Fürsorge einen Ausdruck von seliger Erlösung auf dem vorher so kummervollen Gesicht der alten Frau hervorriefen. Mit Gertrud stand es nicht schlechter, doch war es geboten, sie vorsichtig auf Lisbeths Kommen vorzubereiten. Während Arnold in ihr Zimmer trat, ging Lisbeth in die Küche und fand dort ihre Hilfe womöglich noch notwendiger als in den Krankenzimmern. Die Köchin saß schluchzend am kalten Herd, tief unglücklich über den fremden Ort, über die Krankheit der Frau und noch vieles andere Schreckliche, namentlich aber auch darüber, daß der Herr seit Tagen eigentlich gar nichts zu sich nahm vor lauter Sorge und Aufregung. Darüber war ihr der Mut zum Kochen vergangen. Ihren Braten hatte er nicht angerührt, die guten Suppen ebensowenig, niemand sagte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0690.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)