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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Nr. 40.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (2. Fortsetzung.)

3.

Den zweiten Stock des neuen, zwar kleinen, aber sehr geschmackvoll erbauten Hauses gegenüber der Volksschule bewohnte die verwitwete Baumeister Eichberg mit ihrer Tochter Hermine, und an diesem Abend, in der Stunde, in welcher Lisbeth im Römerschen Hause weilte, waren Mutter und Tochter in dem geräumigen und freundlich ausgestatteten Wohnzimmer bei einander. Der Raum zeigte die Einrichtung eines Damenzimmers, das weniger durch Kostbarkeit als durch Zierlichkeit wirkt. Viele schöne Malereien und Stickereien sprachen von dem Fleiße der Bewohnerinnen, und die Fülle wohlgepflegter Pflanzen und Blumen erhöhte den Eindruck des Behagens und der Gemütlichkeit darin.

Ein schöner Flügel nahm die Längswand des Zimmers ein. Er war geöffnet und die niedrigen Klavierlampen, die neben dem bereits mit Noten belegten Pulte brannten, schienen des Spielers zu harren. Durch die geöffnete Thür sah man im Speisezimmer einen mit drei Couverts gedeckten Theetisch, an dem sich ab und zu die Mutter zu schaffen machte.

Hermine saß am Fenster und sah auf die dürftig beleuchtete Straße hinaus. Ein Zug von Unruhe lag auf dem blassen Gesichte des Mädchens, dem die dunkelblonde, glatte Haartracht und die großen, schwarzen Augen ein fast krankhaft zartes Ansehen verliehen. Wenn sie eine Frage der Mutter beantwortete, bemühte sie sich, ihren Zügen einen gleichmütigen Ausdruck zu geben; aber mit jeder Minute, bei jedem Geräusch auf der Straße oder im Hause wurde ihre Erregung sichtbarer.

„Eben schlägt es acht Uhr, Hermine,“ sagte die Frau Baumeister, „jetzt kommt er nicht mehr. Laß uns zu Abend essen, Kind!“

Eine minutenlange Pause – dann erwiderte jene vom Fenster her, ohne den Kopf zu wenden: „Wir sind so sehr durch seine Pünktlichkeit verwöhnt. Es kann doch auch einmal etwas dazwischen kommen, und er hat noch stets abgeschrieben, wenn er verhindert war.“,

„Das heißt,“ meinte die Mutter zurück, „er hat die letzten drei Freitage sich brieflich entschuldigt, ohne Zeit zu finden, es persönlich zu wiederholen, da nimmt er es wohl als selbstverständlich an, daß wir ihn nicht mehr erwarten.“

„Du bist empfindlich, Mutter!“

„Es war doch sonst anders,“ gab diese zurück, „versäumte er je eine Höflichkeit? Benutzte er nicht jede Gelegenheit, um anzusprechen? Und diese verabredeten Freitage für euer vierhändiges Spiel hielt er

Im Zoologischen Garten.
Nach einer Originalzeichnung von G. Schöbel.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0669.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)