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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ein Opfer der modernen Flugtechnik.

Otto Lilienthal. † am 10. August 1896.
Von W. Berdrow. Mit Abbildungen nach Augenblicksaufnahmen von Ottmar Anschütz in Lissa.


Das alte Märchen von Ikarus, dessen selbstgefertigte Flügel versagten und ihn in der Tiefe zerschmettern ließen, als er sich seinem Ziel am nächsten glaubte, ist jetzt zur traurigen Wahrheit geworden. In den Rhinower Bergen, im Westhavelland, die er so oft schon zum Schauplatz seiner bekannten Uebungen im Schwebeflug gemacht hat, ist der Ingenieur Otto Lilienthal kürzlich mit seinem neuesten Flugapparat aus der Höhe gestürzt und bald darauf seinen schweren Verletzungen erlegen.

Deutschland verliert in ihm den bedeutendsten Vorkämpfer der seit 10 bis 15 Jahren so lebhaft verfolgten Bestrebungen, die Atmosphäre, welche dem lenkbaren Luftballon anscheinend keine Möglichkeit des Erfolges öffnet, mittels der Flugmaschine zu meistern. Da wir diese Bemühungen und ihre bisherigen, wiewohl schwachen Erfolge schon früher, u. a. im Jahrgang 1894 ausführlich geschildert haben, so sei an dieser Stelle nur kurz des Anteils gedacht, den Lilienthal selbst an der Lösung der Flugfrage gehabt hat.

Schwebeflug bei ungleichen Windstößen.

Nachdem er lange Zeit theoretisch und durch Experimente im kleinen, sowie durch andauernde Beobachtung des Vogel- und insbesondere des Storchfluges die Frage nach allen Seiten untersucht und als Frucht seiner Arbeiten das Buch: „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ veröffentlicht hatte, hielt er es vor nahezu 6 Jahren endlich an der Zeit, praktische Versuche über das Flugvermögen des Menschen anzustellen. Seine Beobachtungen und Experimente hatten ihn dahin geführt, als das eigentlich tragende Element, dem sich auch der Mensch, wenn er die Atmosphäre bezwingen will, anvertrauen muß, den leicht gewölbten Flügel des Vogels, als die geeignete Flugform aber den sogenannten Segelflug anzusehen, der die Vögel häufig lange Zeit ohne einen Flügelschlag im Winde dahingleiten läßt.

So begann denn auch er seine Versuche mit dem Schweben auf gewölbten Flügeln, und so schwer er es anfangs fand, die großen Flächen, die zum Tragen eines Menschen nötig sind, in leichtem Winde zu regieren, so stellten sich doch bald Erfolge ein. Von einem meterhohen Sprungbrett ließ er sich zuerst gegen einen mäßigen Wind sinken und erhöhte dann, als es gelungen war, einige Meter weit über den Garten hinzuschweben, allmählich den Ort des Absprunges, bis endlich Garten und Sprungbrett den weiter und weiter sich hinziehenden Segelflügen nicht mehr genügten. Der leidige Feind des Experimentators war bei allen diesen Versuchen der Wind, dessen unregelmäßige Stöße ihn oft zur Verzweiflung brachten und nicht selten die gewagtesten Balancierkünste nötig machten, um das Ueberschlagen und den Absturz zu vermeiden. Die obige meisterhafte Aufnahme eines Schwebefluges bei windiger Luft zeigt deutlich die Anstrengungen des Fliegenden, durch Verlegung des körperlichen Gleichgewichts den unregelmäßigen Windstößen gerecht zu werden.

„Mit mir selbst,“ schrieb er in einer seiner letzten Abhandlungen noch, „hat der Wind oft genug Fangball gespielt, wenn ich bei meinen Segelübungen, mitten in der Flugbahn von Windstößen überrascht, zuweilen um Haushöhe aufgehoben und so hin- und hergeschleudert wurde, daß mir, ehe ich mich daran gewöhnte, der Atem stockte.“

Lilienthal im Augenblick des Abfluges.

Und trotz dieser Gefahren, die er übrigens für den erfahrenen Segler als sehr geringfügig hinstellte, brauchte der Experimentator den Wind, weil seine Apparate von vornherein des eigenen Antriebes entbehrten und ohne die belebende Luftströmung nur ein Fallschirm oder ein totes Holz waren. Lilienthal selber gelang es ja, jahrelang die Gefahren zu besiegen und die Geschicklichkeit zu erhöhen. Von dem anfänglichen Sprungbrett ging er zu Flügen von einer Anhöhe in Steglitz über; als ihm auch diese nicht mehr genügte, suchte er die schrägen Abdachungen der Berge von Rhinow aus und ließ sich endlich, um die zeitraubende Fahrt dorthin zu vermeiden, mit großen Kosten einen 15 m hohen steilen Hügel bei Groß-Lichterfelde auftürmen, auf welchem unsere zweite Abbildung ihn im Augenblick des Abfluges darstellt, und wo die Hunderte von Metern weiten Segelflüge, welche er dort an schönen Tagen auszuführen pflegte, manchen dankbaren Bewunderer und manchen getreuen Photographen, aber merkwürdigerweise fast keinen Nachahmer gefunden haben.

Und doch wurde Lilienthal nicht müde, die Reize seiner Segelflüge zu schildern und zu ihrer Wiederholung aufzufordern, von der er sich für die Zukunft der Fliegekunst mehr versprach als von den scharfsinnigsten neuen Erfindungen. Giebt es erst einen Fliegesport, zunächst für den Segelflug in bewegter Luft, wie es einen Ruder- und Radfahrsport giebt, so ist es bis zum Fliegen selbst nicht mehr weit, pflegte er, zu sanguinisch vielleicht, zu sagen und zu schreiben.

Ueber den Eindruck der Uebungen auf den Schwebenden selbst schrieb er u. a.: „Es wird schwer sein, demjenigen, welcher derartige Gleitflüge nie versucht hat, eine richtige Vorstellung von den Reizen dieser schwungvollen Bewegung zu verschaffen. Die Tiefe, über welche man dahinschwebt, verliert ihre Schrecken, wenn man aus Erfahrung weiß, wie sicher man auf die Tragfähigkeit der Luft sich verlassen kann. Die Beklemmung des Kletterns auf schlüpfrigen Gletscherstufen hat nichts gemein mit den Empfindungen des auf die Luft allein sich stützenden Fliegers. Wenn man, auf den breiten Fittichen ruhend, von nichts als von der Luft berührt, durch nichts als durch den Wind gehoben, mit einem gut erprobten Apparat dahingleitet, so läßt das Gefühl der Sicherheit die Gefahr bald vergessen.“

Uebrigens ließ der Experimentator über diesen Reizen nie den Zweck seines Thuns aus den Augen. Jedes Jahr brachte für seinen Apparat

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0624.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)