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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Landsleute, die dort seit mehr als einem halben Jahrtausend ihre Scholle bebauen und mit der stahlharten Wetterfestigkeit der Siebenbürger Sachsen ihre Sprache und Eigenart bewahrt haben. Von ihnen rühren alle die deutschen Bezeichnungen her, die, von Botzdorf bis zur Alabasterhöhle, von Groß-Schlagendorf bis zur Meeraugspitze, fast die Hälfte des Tatra-Gebirges bedecken. Mit Zagen sehen die Zipser Deutschen jetzt aber in die Zukunft, denn die Ungarn halten das Magyarisieren für ihr souveränes Recht und üben es mit geradezu verblüffender Rücksichtslosigkeit. Während der letzten zwei Jahrzehnte ist es ihnen gelungen, das Popperthal und den ganzen Süden in ihre Hand zu bringen, indem sie in Volks- und Mittelschulen sowie bei den Behörden die ungarische Sprache obligatorisch machten. Auch im Zipser Komitat sind sie jetzt bei der Arbeit.

Die Tatraspitze vom Mengsdorfer Thal aus gesehen.

Weniger als die Sprache haben sie übrigens bisher im Tatragebiet ihre Nationaltracht zur Geltung bringen können. Die malerischen Kostüme aus der Pußta lassen sich ins Gebirge nicht leicht verpflanzen, und die Zipser Bauern auf der einen, die Slovaken auf der andern Seite der Tatra, sie besitzen beide ihre eigene liebgewonnene Nationaltracht; in ihren roten Westen und weißen Mänteln sehen sie schmuck genug aus, um auf den ungarischen Schnürrock und die Franzosenhosen der Czikos verzichten zu können. Und nicht viel zutraulicher als die Zipser Deutschen zu den Ungarn verhält sich – wenn auch aus anderen Gründen – der kleine aufstrebende Volksstamm der Ruthenen zu den Polen, der der Slovaken zu ihren westlichen Nachbarn. – Für denjenigen, der die Hohe Tatra als moderner Reisender und nicht als Forscher besucht, treten die verschiedenen Volksstämme nur selten in die Erscheinung, ihre Gegensätze berühren ihn kaum, denn die Personen, mit denen er in Berührung kommt, Wirte, Bergführer und andere auf den Fremdenverkehr angewiesene Eingeborene, sind kosmopolitisch angehaucht und nichts weniger als nationale Typen. Was den Besucher der Centralkarpathen von vornherein gefangen nimmt und was bei ihm bleibenden Eindruck hinterläßt, das ist das Gebirge selbst mit seiner grandiosen Weltverlassenheit. Ein Abend auf einem der Bergriesen bei Mondschein oder ein Sonnenaufgang, der die vielgestaltigen Kuppen und Zacken, die Felsschrofen und wallenden Nebel darunter in rosiges Licht taucht und mit Gold verbrämt, das ist ein Genuß, den auch skeptisch angelegte Naturen zeitlebens nicht vergessen.


Jocko.

Humoristische Erzählung von Joachim v. Dürow.
      (Fortsetzung.)


Tante Kunigunde war eine der fünf Töchter des Generals von Böhmer. Wegen ihrer auffallenden Aehnlichkeit mit dem Vater, der stark entwickelten Nase und der durchaus militärischen Haltung hatte ihr die allen fünf Töchtern gemeinsame alte Kinderfrau den Namen „det Generalke“ gegeben, und diese Benennung war ihr zeitlebens geblieben. Sie hatte an ihr gehaftet während des heroisch ausgefochtenen Kampfes mit beschränkten Verhältnissen, die ja für die hinterbliebenen Töchter höherer Offiziere meist selbstverständlich zu sein pflegen. Er war ihr auch geblieben, als, nachdem eine Schwester nach der andern hingegangen, eine jähe Wandlung in ihren Verhältnissen eintrat.

Eines Tages hatte nämlich Fräulein Kunigunde die Entdeckung gemacht, daß die Nummer eines mit dem Hauptgewinn herausgekommenen Prämienscheines in Serie und Zahl genau mit dem Schein übereinstimmte, der in dem Bureau des seligen Vaters wohlgeborgen zu finden war. Und wenn die Sache ihre Richtigkeit hatte, so war die arme, alte Kunigunde mit einem Schlage zur „reichen alten Tante“ geworden.

Ehe sie sich aber der Sache als „Gewißheit“ hingab, war es vorsichtigerweise geraten, zum Bankier zu gehen, ob nicht etwa ein Fehler im Druck die ganze Geschichte zur Chimäre machte.

Nein, es stimmte; und da es stimmte, verneigten sich die Bediensteten des Bankhauses außerordentlich tief vor dem „Generalke“. Sie hätten sich auch ebenso tief vor einem „Corporalke“ geneigt, wenn er der Gewinner gewesen wäre, dieweil Beugen vor dem Golde der Menschheit erb- und eigentümlich ist.

Die Leute sagen, daß die Tante, als sie von jener Erkundigung zurückkehrte, zum erstenmal in ihrem Leben gesenkten Hauptes durch die Straßen gegangen sei. Auch an das Glück will sich der Mensch erst gewöhnen, obschon das Gewöhnen nach dieser Richtung hin sich einer außerordentlich schnellen Gangart zu erfreuen hat.

Und Tante Kunigunde hob auch ihr Haupt bald wieder empor; sie war mehr denn je „det Generalke“, hauptsächlich jenen Verwandten gegenüber, welche die teure Tante immer hoch verehrt, aber bisher noch keine Gelegenheit, diese Verehrung zu entfalten, gefunden hatten.

Nun sollten auch wir in den Reihen dieser Verwandten stehen? Konnten wir denn auf eine Annahme dieser Einladung rechnen?

Tante Kunigunde hatte sich, einmal im Besitz der Mittel dazu, mit Interesse und Verständnis rasch die Welt angesehen. Aber sie hatte es dabei kaum erlebt, irgendwo von irgendwem mit Interesse wieder angesehen worden zu sein. Entschieden nicht vom Vatikanischen Apoll oder von der Juno Ludovisi; – kalt war der Blick des Gletschers, und teilnahmslos glühten sämtliche Hörner der Alpen. Sie hatte in krampfhaftem Einsiedlerdrange einige auf „oge“ endigende Inseln der Nordsee, als da sind: Spiekerooge, Wangerooge, Langeooge, und schließlich blos „Oge“ abgegrast, – so weit das Wort „Gras“ mit diesen Inseln vereinbar ist. Sie hatte ihr Kommen und Gehen dort in Geduld von Ebbe und Flut abhängig gemacht und war ohne Rücksicht auf Ebbe und Flut der Länge und der Breite nach durch Europa gesaust. Aber, ob sie wartete – ob sie sauste – sie war eben immer allein.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0608.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2022)