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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Karpathenvereins eine Monographie über diese zwischen dem Lilijowe- und dem Kopapasse lagernde Gebirgswelt veröffentlichte, ist dieselbe der Touristik mit einem Schlage erschlossen worden; wo ehemals nur einige wenige nach anstrengenden Kletterpartien sich an der Großartigkeit und Erhabenheit der Gletscherscenerien erbauten, da trifft man jetzt Naturfreunde aus aller Herren Ländern. Durch die thatkräftige Fürsorge des Ungarischen Karpathen- und des Polnischen Tatravereins sind bis in die höheren Gebiete gangbare Wege und Pfade hergestellt worden, Gaststätten, allen billigen Anforderungen genügend, entstanden, und so ist es nicht zu verwundern, wenn die Hohe Tatra gegenwärtig nicht nur die Sprache der sich in ihrem Schatten begegnenden Völkerschaften, der Ungarn, Deutschen, Slovaken und Polen, sondern auch die der Skandinavier, Engländer, Franzosen und Italiener hört. Die Hohe Tatra ist ein Ziel der Welttouristik geworden und wird es von Jahr zu Jahr mehr.

Treten wir von Poprad, einer südlich der Karpathen gelegenen Station der von Berlin und Wien kommenden in Sillein sich vereinigenden Bahnlinien, die Tour in die Hohe Tatra an, so genießen wir schon hier, vom Park Huß aus, den Anblick eines gewaltigen Panoramas. Vor uns ragen die höchsten Erhebungen des Gebirgskolosses in die Wolken, die Gerlsdorfer Spitze (2659 m), daneben wie getrennt durch die den Namen „Polnischer Kamm“ führende Einsattelung die 2500 m hohe „Warze“, deren gezackte Fortsetzung, der Kastenberg, den Horizont bis zu der mächtig hervortretenden Schlagendorfer Spitze begrenzt. Halb verdeckt von der nahen „Königsnase“ lugt der „Breite Turm“ in blauen Tinten neben dem „Markasit“ und dem „Mittelgrat-Turm“ herüber, und dicht zusammengedrängt mit diesen Zweien die 2630 m hohe Eisthaler Spitze. Noch mehr zur Rechten gruppieren sich dann die Zinnen und Scharten der Lomnitzer Spitze (2635 m) des Lomnitzer „Nordbrabant“, die „Grüne Seespitze“ und andere Bergriesen, bis vom „Dreifüßigen Mann“ ab niedriger werdende Gebirgszüge sich in nebelhafter Ferne verlieren. Kaum irgendwo am Fuße der Alpen zeigt sich uns ein so überwältigendes Gebirgspanorama wie hier, und was der Anblick von der Ebene aus verspricht, das hält die Hohe Tatra, wenn wir nun in nördlicher Richtung ihre höheren Regionen aufsuchen.

Der Künstlerwasserfall.

Auf wohlgepflegten Wegen gelangen wir da zunächst zu dem freundlichen Badeort Schmecks, der Perle der Tatra, wegen der hier sprudelnden eisenhaltigen Mineralquellen – Acidulas Schlagendorfenses, fast jetzt schon den Ruf eines Modebades genießend. Fahrgelegenheiten, Reitpferde und Führer stehen hier dem Wanderer in genügender Auswahl zu Gebote, und nach allen Richtungen hin öffnen sich Wege für die lohnendsten kleineren und größeren Partien. Wir sind schon 1000 m über dem Meeresspiegel. Halten wir uns weiter in nördlicher Richtung, so gelangen wir, noch immer mühelos, in das pittoreske Kohlbachthal. Vorher aber müssen wir seitwärts ein paar Abstecher machen: links zum „Felsensturz“, einem am 26. August 1813 durch Wolkenbruch herabgeschwemmten riesigen Felsblock, zur Rechten zu den „Räubersteinen“. Von den letzteren aus eröffnet sich eine reizende Aussicht in die Kohlbachthäler und die Popperebene, überall begleitet den Wanderer der Anblick der vielgestaltigen Berggiganten. Ueber das „Kämmchen“, einen Ausläufer des „Schartigen Kammes“, hinweg geht es nun dem rauschenden Kohlbach entgegen. Schon ist die Höhe von 1200 m überschritten. Da, mitten in die malerische Wildnis eines Tannenhages hinein, hat der menschliche Unternehmungsgeist ein Hotel gesetzt und neben diesem breitet die Rosahütte, ein im Jahre 1875 vom Ungarischen Karpathenverein erbautes, jetzt der Georgenberger Waldbürgerschaft gehöriges Schutzhaus, sein gastliches Dach aus. Neben ihm und tiefer am Abhange wiegen Tannen ihre bärtigen Aeste im Winde, von Westen fernher blinken in schneeiger Frische die Schlagendorfer und Gerlsdorfer Spitzen. Neue und geradezu überraschende Ausblicke eröffnen sich dem Wanderer. Nach Norden überfliegt der Blick eine riesige Mulde, bedeckt mit Trümmern und Geröll, umgrenzt von Moränen und schroff emporragenden Granitwänden. Ein mächtiger Vorsprung des nahen Felsens trägt die Bezeichnung Kanzel, und wie um die vorhin erwähnten Räubersteine, so rankt sich auch um diese Kanzel die nimmer ruhende Volkssage in vielgestaltiger Ausschmückung.

Sie ist eine der vielen Teufelskanzeln geworden, wie sie im Gebirge mit allerhand unheimlichem Spuk belebt wurden.

Bis herauf zur Kanzel dringt schon das Rauschen der Kohlbachfälle.

Es giebt in der Nähe eine stattliche Reihe solcher Fälle. Zunächst der lange Fall, dann der große, der kleine, der verborgene Fall, der Riesensturz und dann ganz besonders der Künstlerwasserfall. Der lange Fall in der ungefähren Höhe von 40 m beginnt 1197 m über dem Meeresspiegel, weiter aufwärts stürzt sich der große Fall mehrere hundert Meter kaskadenartig von Fels zu Fels, bis er zuletzt in zwei getrennten Strahlen tosend in den unten ausgehöhlten Hexenkessel hinabschießt. Wie hier, so hat auch in den übrigen Fällen ein heimischer Forscher, Ed. Blasy, glattausgeriebene kesselartige Vertiefungen konstatiert, die nicht nur von dem sprichwörtlichen steten Tropfen ausgehöhlt worden sind, sondern von Felsblöcken, wie sie die Sturzwasser bei starken Anschwellungen selbst von oben herabwälzen. In jedem dieser Kessel liegt nämlich ein großer und eine Anzahl kleiner Steine. Wenn Hochwasser kommt, wie im Frühjahr bei der Schneeschmelze, so beginnt der große Stein seine Reibthätigkeit, unmerklich aber sicher sein Lager in dem kompakten Felsen vertiefend. – Entsprechend ihren Namen ist der Riesensturz des Kohlbaches der bedeutendste und der Künstlerwasserfall der malerischste aller Fälle. Jener stürzt 40 m tief senkrecht in den von Felsblöcken angefüllten Kessel, dieser, mit seiner reizenden Umgebung, bietet Künstlern und Photographen jederzeit willkommene Ausbeute.

Bevor man thalaufsteigend zu ihm gelangt, trifft man in einer Thalmulde, von tannenbewachsenen Bergen umgeben, die Vereinigung des großen und kleinen Kohlbachs in einer Seehöhe von 1286 m. Das stark verbreiterte Flußbett ist auch hier mit Steingeröll durchsät, klar wie überall umspült das Gewässer die moosgrünen Blöcke. Dem Zusammenfluß zunächst am Fuße der Schlagendorfer Spitze liegt die Rainerhütte auf grünem Wiesenplan und neben ihr noch ein Unterkunftsort

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0606.jpg&oldid=- (Version vom 27.11.2022)