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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Tage, seine Gültigkeit hat. Diese Erkenntnis muß sich besonders jedem aufdrängen, der den 200 Quadratkilometer umfassenden Jadebusen, eine starke Einbuchtung der Nordsee, besucht und seine Natur erkundet hat. Ein kleines Flüßchen, die Jade, mag ursprünglich, in Verbindung mit dem gierigen Ocean, für die Bildung der ersten Ausbuchtung gesorgt haben. Und der „blanke Hans“, die stürmische Nordsee, fand Freude am Landverderb im Großen. Furchtbare Fluten verschlangen im Laufe der Jahrhunderte wiederholt weite Länderstrecken, Ansiedlungen und Hab’ und Gut der Menschen. Der Schiffer, der heute über die seichten Fluten dahinsegelt, fährt über versunkene Dörfer, und die feuchten Watten, über welche des Granatfischers „Schlöpe“ gleitet, waren ursprünglich lehmhaltiger, fruchtbarer Mutterboden.

„Schlöpen“ am Strande.

Und doch wußte der Mensch vielfach auch in diesen Gegenden seine Herrschaft zu behaupten! Langgezogene Deiche umsäumen jetzt weithin das niedrig gelegene Land am Jadebusen und bändigen die wilden Wogen, die bei den großen Sturmfluten der letzten Jahrzehnte vergebens ihre Kraft an diesen Menschenwerken maßen; und im Schutze jener Dämme hat sich denn auf dem fruchtbaren Schwemmboden, auf den Marschen sowohl als auch auf dem Geestlande, ein gesundes, bäuerliches Leben entfaltet, das meist zu behäbigem Wohlstand führte. Gern schweift der Blick von der Deichkrone hinaus in das ebene Binnenland, wo zwischen Hecken und Gehölzen die niedrigen Stroh- oder Ziegeldächer wohlgehaltener Gehöfte hervorschauen, wo weite, mit stattlichen Rinderscharen und grasenden Pferden besetzte saftgrüne Weiden mit wogenden Aehrenfeldern abwechseln, auf fernem Hügel mächtige Windmühlenflügel kreisen und ein blauduftiger Wald den Horizont begrenzt. Das alles hat viele Jahrhunderte langer Kampf dem Meere abgerungen oder gegen dessen Üebergriffe gefestigt. Am Strande selbst aber mag man heute noch der Worte des Plinius innewerden. Noch steigt mit der Flut und sinkt mit der Ebbe zweimal täglich das Meer, sich gewaltig durch die Enge bei dem starkbefestigten Kriegsport Wilhelmshaven hinein- und hinausdrängend. Noch möchte man auch jetzt zweifeln, ob man Meer oder Land sieht, wenn die Wasser bei der Ebbe die breiten Watten des Jadebusens verlassen haben und nur in den schmalen Fahrrinnen, den „Tiefen“, das salzige Naß steht. Schreiende Möwenschwärme tummeln sich auf den Flächen, an zurückgebliebenen Krabben und Fischen reiche Atzung findend, und der meist wolkenbedeckte Himmel spiegelt sich, gleichwie in der Flut, im feuchten Schlick.

Das Ufer selbst bietet wenig Reize. Spirriger, blaugrüner Strandweizen und Sandhaargras schießen zwischen dem Sande empor. Ein kleines, am Boden kriechendes, dickblätteriges Pflänzchen, die Salzmiere, Schachtelhalm, Strand-Astern, -Nelken und -Wegerich, die distelartige Meerstrandsmännertreu und Röhricht fristen da ein karges Leben; doch eine kräftige Grasnarbe zieht sich an den mit Marschland gefestigten Deichen hinauf. Nur an vereinzelten Stellen läßt der fast stets wehende, scharfe Wind, der sich oft zum Sturme steigert, eine höhere Vegetation aufkommen, und wo an den Uferhöhen Baum oder Strauch sich eine mühselige Existenz erkämpften, da haben sie ihre Stämme nach der bedrohten Windseite hin dicht mit schützendem Moose umkleidet.

Im harten Kampfe gegen die feindseligen Naturgewalten fristen hier auch die Menschen ihr Dasein. In kleinen, äußerlich meist gut gehaltenen, einzeln stehenden Häuschen wohnen sie, um sich her ein Stückchen Kartoffel- und Gartenland, vor den Fenstern ein enges Blumengärtchen. Oft nennen sie eine Kuh ihr eigen, gewöhnlich aber nimmt die Ziege, die „Kuh des armen Mannes“, ihre Stelle ein. Viele halten sich auch ein Schwein, das als Allesfresser von den Abfällen der Fischerei lebt. Hühner und Enten fehlen selten. Das Brennmaterial, das Plinius als getrockneten Schlamm bezeichnete, ist Torf, der auf ausgiebigen Mooren überall in diesen Gegenden gestochen wird und mit dem man der Billigkeit halber sogar vielfach die Brunnen ausmauert.

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Strandfahrer auf der Ausfahrt.

So stellt sich denn das Leben jener Leute sehr ärmlich dar und sie sind von der Natur zu einer Bedürfnislosigkeit und Kargheit erzogen, vor welcher der Fabrikarbeiter im Lande sich bedanken würde. Dennoch haben sie sich durch die Jahrtausende hin eine hohe und kräftige Statur bewahrt. Ungemein dicht ist ihr im Grunde strohfarbenes, in verschiedenen Abtönungen spielendes Haupt- und Barthaar, und aus dem lederfarbenen Antlitz blicken helle Augen scharf hervor.

Aeußerst mühsam ist das Gewerbe dieser friesischen Strandfischer, das dazu keineswegs den Reiz des an Gefahren reicheren und lohnenderen des Hochseefischers bietet und ziemlich eintönig sich gestaltet. An wertvollen Fischen liefern die Wattengewässer nur geringe Ausbeute, und da auf ein regelmäßiges Erscheinen und Vorkommen derselben nirgends gerechnet werden kann, so beschränkt man sich fast ausschließlich auf den Faug des den Dollart und den Jadebusen, wie überhaupt die Küstengewässer, zu Milliarden bevölkernden Granat (Crangon vulgaris). Dieses scherenlose, bis zur Größe des kleinen Fingers sich auswachsende, glasartige Krebschen, das auch Garneele oder Crevette genannt wird, bietet namentlich in dem Fleisch seines Schwanzes einen vorzüglichen Leckerbissen, der freilich nur Dem ungeschmälert zu gute kommt, der durch einen geschickten Handgriff das delikate Fleisch von seiner Hülle zu befreien weiß. Erprobte Granatesser im Oldenburgischen, wo das Krebschen eine ebenso beliebte Zuspeise zum Bier ist wie etwa in München der „Radi“, sollen imstande sein, in fünf Minuten ein ganzes Liter dieses Seetiers zu enthülsen.

Man stellt dem Granat am Jadebusen auf verschiedene Art

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0555.jpg&oldid=- (Version vom 21.10.2022)