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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Gedanken allzulange von ihren Augen hätte verscheuchen lassen. Sie schliefen ein – und gleichmäßig gingen ihre Atemzüge im Dunkel der Stube …

Draußen fuhr der kalte Nachtwind mit eintönigem Rascheln durch das welke Laub der Apfelbäume und über die Mauern.

Tiefe Finsternis war um das kleine Haus gelagert; in so dichter Menge deckten die Wolken schon den ganzen Himmel, daß der Mond mit keinem matten Zwielichtschein diese schwere Fülle des Gewölkes mehr durchdringen konnte.

In dieser schwermütigen, nur vom Wehen des Windes unterbrochenen Nachtstille ließ sich plötzlich ein Geräusch vernehmen – das Kollern eines Steines. Dann bei der Böschung ein Rutschen, ein Knacken von Aesten und ein Geklapper, als wäre Blech auf Holz gefallen.

„Sakra! Mein’ Trumpeten!“ wisperte eine Stimme, und ein schwarzer Klumpen, welcher tastende Arme zu haben schien, bewegte sich auf der Erde hin und her. „Ah, da liegt s’ ja!“

Jetzt wieder Stille. Nach einer Weile konnte man langsam schleichende Tritte hören – sie knisterten ein wenig, denn von der Kälte begann der nasse Boden schon hart zu werden – und mit diesen knisternden Schritten bewegte sich ein dicker, schwarzer Strich, welcher drei graue Flecke (ein Gesicht und zwei Hände) an sich hatte, von einem Baumstamm zum andern, scharf in der Richtung gegen ein kleines Kammerfenster.

Es war eine Arbeit, in solchem Dunkel dieses Fenster möglichst lautlos zu erreichen! Und Schorschl atmete erleichtert auf, als er endlich bei der Mauer stand. Er schien die Absicht zu haben, hier längere Zeit zu rasten, denn er richtete sich häuslich ein, trug eine Holzkufe, an die er mit den Knieen angerumpelt war, dicht neben das Fenster, stülpte sie um, ließ sich bequem darauf nieder und legte die Trompete hinter sich.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt und im Schoß die Daumen drehend, wartete er ein Viertelstündchen – um der Ruhe im Hause völlig sicher zu sein. Dabei lächelte er bald in die Finsternis hinaus, bald wieder blinzelte er die schwarzen, stillen Scheiben an.

Endlich nahm er sich das Herz und klopfte ans Fenster, ganz leise.

In der Kammer rührte sich nichts.

Er klopfte wieder, ein drittes und ein viertes Mal, und immer lauter – doch in dem Stübchen blieb alles still.

„Herrgott! Hat die heut’ ein’ Schlaf!“

Wieder, wie damals bei jenem ersten Besuch, wollte er das Fenster ein wenig aus dem Rahmen drücken, um durch die Fuge hineinzuflüstern.

„Vronerl? … He! … Vroni! … Hörst mich denn net?“

Nein, sie hörte nicht!

Er drückte fester; da gab der Fensterflügel plötzlich nach und legte sich klirrend einwärts gegen die Nischenmauer.

Im ersten Augenblick erschrak Schorschl – dann aber kicherte er vergnügt: „Jetzt muß sie ’s aber doch g’hört haben!“

Er lauschte. Und richtig, aus der Tiefe der Kammer hörte er ein mattes, unbestimmbares Geräusch! Sehen konnte er nichts, denn das Innere des Stübchens lag wie ein schwarzer Fleck vor ihm – aber er wußte es noch vom letzten Mal: dort hinten in der Ecke stand das Bett – und genau aus dieser Richtung ließ das Geräusch sich vernehmen. Und wie sich das anhörte – ganz komisch – als hätte Vroni einen Leintuchzipfel in der Hand und klopfte damit gleichmäßig und sacht auf das Kissen oder an die Wand.

„Vronerl!“ flüsterte Schorschl mit seiner zärtlichsten Stimme. „Geh, was klopfst denn jetzt da? … Komm lieber ein bißl her ans Fenster! Schau, ich muß Dir was sagen! Mein Herz, mein Glück und mein Leben hängt dran! Schau, ich will ja doch nix Unrecht’s net haben! Bloß ein gut’s Wörtl sollst mir sagen, das mich ein bißl aufrichten könnt und das mir zum Bravsein den richtigen Mut macht! … Geh, Vronerl, komm her!“

Aber Vronerl kam nicht. Wohl schwieg jetzt dieses merkwürdige Klopfen – dafür aber schien die stumme Widerspenstige auf einen anderen Zeitvertreib geraten zu sein: sie zupfte mit den Nägeln am Leintuch umher.

„Vronerl! Schau, sei gescheit! Laß Dich erbitten und komm ein bißl her! … Oder hast meine Stimm’ net ’kennt? … Meinst, es is ein anderer? … Na na! Ich bin ’s! Der Schorschl!“

Vroni mußte das Gesicht in die Polster gedrückt haben, um ihr Kichern zu ersticken – meinte Schorschl – denn anders konnte er sich dieses neue, sonderbare Geräusch nicht deuten: es hatte eine entfernte Aehnlichkeit mit jenem Kudern, das ein Hündchen oder ein anderes Tier verursacht, wenn es sein Fell schüttelt.

„Aber Vroni! Geh! Auslachen mußt mich doch net! Schau mir is blutig ernst!“ Seine Stimme zitterte vor Erregung. „G’wiß wahr, Vronerl … Dein Wörtl von selbigsmal: ‚Du bist ein Lump!‘ … schau, Vronerl, das hat mich ’packt, wie der Teufel die arme Seel’! Nach’gangen is mir ’s bei Tag und Nacht! Und nimmer aus’lassen hat’s mich! Gleich gar nimmer aus’lassen! Und schau, Vronerl …“

Er war im Zug und redete weiter mit sprudelndem Geflüster. Alle Gedanken und Empfindungen der letzten Tage schilderte er mit offenherziger Wahrheit; beichtete all seine Schulden, aber auch seine guten und ehrlichen Vorsätze; mit zärtlichem Gestammel bekannte er der schweigsam Lauschenden, wie es plötzlich in ihm aufgedämmert wäre, daß er sie lieb hätte, so recht von Herzen lieb, „so z’tiefst aussi aus der tiefsten Seel’!“

Und wahrhaftig, heiße Zähren sickerten ihm durch den Schnurrbart, während er mit vorgestrecktem Hals in das stille, finstere Stübchen schwatzte: „Schau, Vronerl, ich weiß ja, daß ich Dich heut noch net wert bin! Und ehrlich g’sagt … ’s Bravsein wird mir hart! D’ Lüftigkeit rebellt mir im Blut, sie zwickt mich und kitzelt und beißt mich und möcht’ mich gern aus der Besserung wieder ’runterzarren auf die alten Lumpenweg’! Aber schau, Vronerl, Du könntst mein Schutzengel sein, mein’ Hilf’ und mein Trost. Wenn Du mir ein bißl Hoffnung geben thätst … wenn Du mir Dein lieb’s Handerl bieten möchtest und thätst mir sagen: Ja, Schorscherl, ich glaub’ Dir! … schau, Vroni, das könnt’ ein’ andern aus mir machen! Ein ganz ein’ andern! Und kein’ Schlechten net! … Geh, Vronerl, komm ein bißl her! … Schau, laß mich net fallen, thu mich ein bißl aufrichten! Geh, Vronerl, gieb mir Dein’ Hand!“

Schorschl schwieg und lauschte mit pochendem Herzen; doch aus der finsteren Kammer ließ sich kein Laut vernehmen.

Glühend stieg ihm das Blut zu Kopf und seine Stimme wurde heiser. „Vroni! Wenn D’ jetzt kein Wörtl net find’st … na! nachher rührt sich nix in Dir für’n Schorschl!“

Da hörte er jenes merkwürdige Klopfen wieder.

„Du, Vroni, ich sag’ Dir ’s: mach’ Dich net auch noch lustig über mich!“ Er dämpfte die lautgewordene Stimme und bat: „Geh, Vronerl, geh, so komm doch her! … Du! Ich sag’ Dir’s: trau mir net!“ Seine Stimme hob sich wieder. „Wenn net herkommst auf der Stell’ … meiner Seel’, so spring’ ich ’nein!“ Er machte auch gleich den Versuch, diese Drohung auszuführen, stieß sich aber die Stirne recht unsanft an einer Eisenstange des Gitters. Zur Mehrung seines Ingrimmes mußte er sich auch noch erinnern, daß er selbst vor einigen Jahren dieses verwünschte Fenstergitter geschmiedet hatte. „Natürlich! Das hat man von der Arbeit!“ Er faßte die Stange und rüttelte an ihr. „Vroni! … Spiel’ Dich net z’lang mit mir! … Oder ich geh’! Und mit ’m Schorschl is aus und gar! … Und Du hast ihn auf ’m G’wissen.“

Keine Antwort.

„Recht so! Is schon gut!“ Schorschl tappte nach seiner Trompete. „Mich siehst fein nimmer im Leben! … B’hüt Dich Gott!“

Er brachte, als er sich vom Fenster abwandte, diesen letzten erbitterten Abschiedsgruß kaum mehr aus der Kehle.

Aber da hielt es ihn plötzlich wieder fest. Er meinte in der Kammer einen leisen Klapp gehört zu haben, als wäre jemand mit nackten Füßen auf die Dielen gesprungen.

„Jesses, sie kommt!“ stotterte Schorschl. Und da er im gleichen Augenblick hinter dem noch geschlossenen Fensterflügel etwas Weißgraues über dem Fensterbrett erscheinen sah, sprang er mit jähem Satz zur Mauer zurück. „Vronerl!“ jauchzte er in erstickter Freude, und hurtig griff er mit der Hand in das Fenster, um zu haschen, was er für den weißen Arm des Mädchens hielt.

„Himmelsakra!“

Mit diesem erschrockenen Ausruf, der ihm zugleich als Schmerzensschrei diente, zog er die übel zugerichtete Hand wieder zurück.

Eine Weile stand er völlig sprachlos, bis es plötzlich mit bebendem Zorn aus ihm hervorbrach: „Fein! Nobel! Das muß ich sagen! Da schau her!“ Er streckte die zerkratzte Hand gegen das Fenster, „’s Blut lauft mir über d’ Finger ’runter! Wie Du, so kratzt ja net einmal die wildeste Holzkatz’!“

„Miaaau!“ klang es aus der Tiefe der finsteren Kammer.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0552.jpg&oldid=- (Version vom 20.7.2023)