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darüber verlieren, wenn ich nicht immer eine ganz eigenartige und sozusagen unüberwindliche Abneigung gegen einzelne Fächer gehabt hätte. Ich gestehe Dir zum Beispiel offen, Kindting, rechnen kann ich nicht. Habe ich nie gekonnt. Es liegt nicht in mir. Und dann Geschichte und Geographie siehst Du, das sind Dinge, für die man ein ganz spezielles Talent haben muß. Das ist nicht jedem gegeben; man kann nicht dafür. Ebenso geht es mit der Naturkunde. Dies sind ja Fächer, die sich für den weiblichen Geist durchaus nicht eignen. Ich bin immer ausgeprägt weiblich gewesen, Du weißt es, Kindting, und ich leugne nicht, wenn sich nicht jemand findet, der mir beim Examen in diesen Dingen ein wenig Hilfe leistet, so weiß ich nicht, wie es mir ergehen soll. In allem übrigen bin ich natürlich sattelfest – aber diese vier Fächer und etwa noch die französische Grammatik, die sind mir mehr oder weniger sämtlich fremd.“

„Sie scherzen, Fräulein Nunnemann!“ sagte ich, sie ganz erschrocken ansehend.

„Keine Spur – wirklich Kindting, keine Spur! Und siehst Du,“ sie klopfte mich freundlich auf die Wange, „darum war ich vorhin so entzückt, als ich hörte, wir würden zusammen das Examen machen. Es ist ja eine offenbare Fügung des Himmels. Denn, nicht wahr, Kindting, Du wirst doch Deine Lehrerin, die Dich immer so lieb gehabt hat und der Du so viel dankst, nicht im Stiche lassen? Du wirst mir aushelfen?“

„Aber Fräulein Nunnemann!“ rief ich, sobald ich begriff, was sie eigentlich wollte, mit der ganzen Empörung des Juristenkindes und der wohlgedrillten Seminaristin, „das darf ich ja nicht! Und selbst, wenn ich es trotzdem wollte, ich könnte es ja gar nicht!“

„Natürlich kannst Du es,“ sagte Fräulein Nunnemann tief verletzt, „man kann alles, aber freilich, wenn Du nicht willst! – Kindting,“ fuhr sie überredend fort, „ich habe Dir doch so oft etwas nachgesehen, als ich damals bei Euch war, das willst Du mir doch gewiß nicht dadurch vergelten, daß Du mich nun im Stiche läßt!“

„Ich könnte Ihnen ja aber gar nicht helfen,“ sagte ich, immer noch halb empört, halb verblüfft. „Wie sollte ich es denn machen? Erstens weiß ich doch noch nicht einmal, ob ich selbst bestehe, und zweitens sitzen wir ja nach dem Alphabet, also ist Ihr Platz weit von meinem entfernt. Wie sollte es mir denn möglich sein, Ihnen zu helfen, Fräulein Nunnemann? Können Sie das nicht einsehen?“

Nein, sie konnte es nicht einsehen. „Das habe ich nicht gedacht, daß Du mir alle meine Liebe so lohnen würdest,“ beharrte sie mit Thränen in den Augen, „denn die Sache ist ganz einfach – Du willst nicht.“

„Nein, ich will auch nicht, weil ich es nicht darf.“

Da zog Fräulein Nunnemann ihren Arm aus dem meinen und sah mich mit wahrhaft tragischem Ausdruck an.

„Gut,“ sagte sie, indem sie den rechten Zeigefinger drohend gegen mich schüttelte, „Du trägst dann aber auch die Verantwortung, wenn ich durchfalle und mein Leben künftig zerstört ist. Wer weiß, was ich thue, wenn ich zurücktreten muß. Nimm Du es dann auf Dein Gewissen!“

Eben wollte ich gegen diese unerhörte Zumutung lebhaft protestieren, da erklang die große Schulglocke, die uns zur Schlacht auf Leben und Tod rief. Ich ließ Fräulein Nunnemann stehen und eilte, in das große Klassenzimmer zu kommen, in dem die Prüfung abgehalten werden sollte. Fräulein Nunnemanns kornblumenblaues Kleid leuchtete einige Bänke vor mir aus all den ehrbaren schwarzen Gewändern, die es umgaben, herausfordernd hervor. Mich mit ihr in irgend eine Verbindung zu setzen, wäre selbst bei dem besten Willen unmöglich gewesen, und das war mir wirklich lieb.

Der erste Tag war den schriftlichen Arbeiten, der zweite und dritte der mündlichen Prüfung und der vierte und fünfte den Probelektionen gewidmet. Je weiter die Prüfung fortschritt, je seltener wurden die bleichen Wangen und je häufiger die fröhlich glänzenden Angen in unseren Reihen. Die Sache war ja ganz anders, als wir sie uns vorgestellt hatten. Es fiel keinem Menschen ein, Unerhörtes von uns zu verlangen, und nur sehr wenige hatten Ursache, einen üblen Ausgang zu fürchten.

Zu diesen wenigen gehörte das unselige Fräulein Nunnemann. Schon der erste Tag sollte ihr verhängnisvoll werden. Ich muß annehmen, daß sie gegen noch andere als die von ihr namhaft gemachten Fächer von jeher eine unüberwindliche Abneigung gehabt hatte. Ein paarmal, da ich von meinen schriftlichen Arbeiten empor und zufällig gerade auf sie blickte, sah ich sie lässig zurückgelehnt sitzen, ein fast unbeschriebenes Blatt vor sich, als gäbe sie den Versuch auf, etwas Unmögliches zu vollbringen. Als die gefürchteten Rechenaufgaben an die Reihe kamen, erhob sich plötzlich Fräulein Nunnemann von ihrem Sitze, und in die allgemeine lautlose Stille hinein klang es so erschreckend deutlich, daß alle Köpfe emporfuhren: „Dürfte ich vielleicht ganz ergebenst bitten, diesen Aufgaben eine etwas andere Form geben zu wollen? In der vorliegenden sehe ich mich außer stande, sie zu lösen.“

„Ich bedaure, mein Fräulein,“ entgegnete der Wache haltende Schulrat kühl, „daß wir unsere Anforderungen nicht nach Ihren Kenntnissen bemessen können.“

Er hatte sie schon ein paarmal mit nicht eben liebevollen Blicken gemustert, wenn er ihre so wunderbar wenig umfangreichen Arbeiten in Empfang nahm.

Fräulein Nunnemann zuckte mit den runden Schultern. „Dann muß ich bitten, mich von der Prüfung im Rechnen dispensieren zu wollen.“

„Ganz nach Ihrem Belieben, mein Fräulein.“

Worauf sich Fräulein Nunnemann erhob, ihre blaue Schleppe zusammenraffte und das Zimmer mit zurückgeworfenem Lockenhaupt und großer Würde verließ. Wir anderen warfen uns gegenseitig scheue Seitenblicke zu. Wer in einem gläsernen Hause wohnt, wirft nicht leicht mit Steinen, und ich glaube, keine von uns fühlte sich versucht, zu lachen.

Dies geschah unmittelbar vor der Erholungspause, die uns gewährt wurde. Als dieselbe begann und wir tief aufatmend in den Garten hinaustraten, spähte ich vergebens nach Fräulein Nunnemann, bis ich einen Zipfel ihres blauen Gewandes auf dem Korridor erblickte, wo sie, umgeben von unseren grimmen Examinatoren, heftig gestikulierend stand, um dann plötzlich aus ihrer Mitte zu verschwinden. Als wir uns auf den Ruf der Glocke wieder versammelten, fehlte sie.

„Wissen Sie schon, die mit dem blauen Kleide ist zurückgetreten,“ raunte mir meine Nachbarin noch hastig zu, als wir uns auf unsere Plätze begaben. „Die Herren haben ihr vorhin erklärt, daß keine Hoffnung für sie wäre. Selbst das brillanteste ‚Mündliche‘ könnte sie nicht mehr retten. Die Aermste!“

„Ja, die Aermste!“ dachte auch ich in ehrlichem Mitgefühl. Der Gedanke, was Fräulein Nunnemann nun wohl beginnen würde, drängte sich immer wieder zwischen die uns gestellte Aufgabe und mich, so daß ich ein paarmal ganz täppische Fehler zu korrigieren hatte. Sie hatte doch gesagt, sie wüßte nicht, was geschähe, wenn sie die Prüfung nicht bestände und damit ihr ferneres Leben zerstört wäre. Wie nun, wenn sie sich in der Verzweiflung in das Wasser stürzte oder sich mit Blausäure vergiftete oder sonst etwas Gräßliches und nie wieder gut zu Machendes beginge? Mußte es den Herren, die sie in solche Not trieben, und die trotzdem so heiter und gelassen zu sein schienen, nicht ein lebenslänglicher Gewissensvorwurf bleiben? Wenn mir nun etwas Aehnliches passiert wäre? Würde ich es wagen, nach einer solchen schmählichen Niederlage anständigen Menschen überhaupt noch in das Gesicht zu sehen? Schwerlich. Ich wollte noch heute nachmittag, nachher gleich, nachdem wir hier vorläufig entlassen waren, zu ihr gehen, sie zu trösten, ich – ja, weiter kam ich in den Gedanken nicht, denn ein hastiger, unwillkürlicher Blick auf die Wanduhr belehrte mich, daß mir nur noch zehn Minuten Zeit blieben, und emsiger als vorher glitt meine Feder über das Papier.

„Wir danken Ihnen für heute, meine Damen,“ sagten die Herren, nachdem unsere letzten Arbeiten eingesammelt worden waren, und mit einem Seufzer der Erleichterung erhoben wir uns alle. Die Externen schwärmten wie aufgescheuchte Bienen hinaus auf den Flur, nahmen ihre Hüte und Umhänge und gingen in ihr Quartier, und auch wir Pensionsküchlein hatten heute zum erstenmal Erlaubnis, unbeaufsichtigt einen Erholungsspaziergang zu machen. Schnell eilte ich in den Schlafsaal, vertauschte den „Examensfrack“ mit einem weniger feierlichen Kleide und ging auf die Straße.

Als ich jedoch vor die Hausthür trat, wurde mir eine Ueberraschung der verblüffendsten Art. Vor der gegenüberliegenden Konditorei saß auf einem eigens zu diesem Zweck dorthin getragenen Stuhl, denn es war sonst in der Stadt nicht gebräuchlich, auf der Straße zu essen und zu trinken, die Falten ihres Kornblumengewandes

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0546.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)