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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Fräulein Nunnemann.

Erzählung aus vergangenen Tagen.0 Von Eva Treu.
1.

Steht auf, ihr kleinen Rekruten,“ sagte der Herr Konrektor Müller zu uns Schülerinnen der zweiten Klasse. Wir standen auf.

Herr Konrektor Müller nannte uns mit einer starrköpfigen Beharrlichkeit, die uns täglich wieder aufs neue beleidigte und empörte, die „kleinen Rekruten“. Es war eine Bezeichnung, deren Angemessenheit uns in keiner Weise einleuchten wollte, gegen die wir uns aber nicht auflehnen durften, weil er der Höchstgebietende in unserer kleinen, von ihm neben seinen eigentlichen Amtsgeschäften geleiteten Töchterschule war, vor dessen Strenge wir eine äußerst heilsame Furcht hatten. So kamen wir denn auch jetzt dem Gebot, uns zu erheben, mit einer Promptheit nach, über die sich der kleine dicke Herr Binte, unser Rechenmeister, dessen Befehle sich nie der geringsten Beachtung erfreuten, höchlichst gewundert haben würde, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, uns in diesem feierlichen Augenblick zu beobachten. Er war aber nicht da, sondern neben Herrn Konrektor Müller stand nur eine Dame, auf die wir Kleinen aus der zweiten Klasse rasch einige verstohlene Seitenblicke warfen, als wir uns erhoben. Vorerst sahen wir in der Geschwindigkeit nur, daß sie klein und dick war wie Herr Binte.

Seit einer Viertelstunde saßen wir bereits in brennender Neugierde und Erwartung auf unseren Plätzen. Wußten wir doch, daß heute unsere neue Lehrerin eingeführt werden sollte, und daß Herr Konrektor Müller eben dabei war, ihr die Großen in der ersten Klasse vorzustellen. Wir hatten eine besonders liebe, in unseren Augen völlig unersetzliche Lehrerin durch ihre Verheiratung verloren und wußten, daß es viel Mühe und Schreiberei verursacht hatte, eine genügende Stellvertreterin zu finden, denn damals, vor mehr als dreißig Jahren, waren die Lehrerinnen in unserer Provinz noch nicht so reichlich gesät wie heute, wurden auch überall angestaunt wie eine Seltenheit, und war eine solche Dame gar im Auslande gewesen, oder eine „Examinierte“, so hatte man gründlichen Respekt vor ihr und ihren Kenntnissen, rechnete sie dann freilich auch erbarmungslos unter die Blaustrümpfe. Sie war dann auch allemal von weit her, denn wir Schleswig-Holsteiner in unserer Unschuld hatten damals noch nichts, was auch nur den allerersten und schüchternsten Anfängen eines Lehrerinnen-Seminars geglichen hätte. Es waren ganz andere Schulzustände als heute!

Eine „Examinierte“ war deshalb die Dame auch keineswegs, die man nach langem Wählen für würdig befunden hatte, fast die ganze Leitung unserer Schule zu übernehmen, da Herr Konrektor Müller dafür nicht mehr die nötige Zeit erübrigen konnte. Aber sie hatte vorzügliche, geradezu ideale Zeugnisse über ihre bisherige Thätigkeit eingesandt, und deshalb sahen die Eltern ihrem Eintreffen äußerst hoffnungsfroh und vertrauensvoll entgegen.

„Dies ist eure neue Lehrerin, Fräulein Nunnemann,“ sagte Herr Konrektor Müller. Die Gesittetsten unter uns, zu denen ich leider nicht gehörte, knixten, und Fräulein Nunnemann knixte ebenfalls.

„Seid fleißig und gehorsam, habt Fräulein Nunnemann lieb und macht ihr Freude, damit sie euch auch lieb haben und euch Freude machen kann“, fuhr Herr Konrektor Müller in seiner knappen Manier fort. „Vor allem macht keinen Unfug in ihren Stunden, damit es euch nicht übel bekomme.“

Fräulein Nunnemann knixte abermals, und die Schuldbewußten unter uns, zu denen ich gehörte, wenn ich meiner zahlreichen Sünden gegen den guten und nachsichtigen und mir sogar persönlich besonders gewogenen Herrn Binte gedachte, wurden rot.

„Ich überlasse also Ihnen, mein wertes Fräulein Nunnemann, diese kleine Rekrutenschar. Es sind gnte, begabte Kinder darunter, freilich auch einige schwarze Schafe, die herauszufinden ich Ihnen selbst überlassen will,“ sagte unser Gestrenger, seine wohlgepflegte Hand dabei, ich weiß nicht, ob mit oder ohne Absicht, auf meine dicken, schwarzen Flechten legend. Nach dieser kurzen und bündigen Einführungsrede verließ er das Klassenzimmer schleunigst, denn er hatte von Zehn bis Elf eine griechische Stunde in der Sekunda des Gymnasiums zu geben.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als Fräulein Nunnemann sich niedersetzte, beide Ellbogen auf den nächsten Schultisch stützte und gemütlich sagte: „Na, Kinnings, nun erzählt mir nur erst mal, wie ihr eigentlich heißt. Könnt euch dabei niedersetzen.“

Die Stimme klang entschieden tröstlich; sie war fett und gutmütig und entbehrte vollständig jedes strengen Klanges. Und darum machten wir kleinen Rekruten in der zweiten Klasse sämtlich „Augen rechts!“ und gestatteten uns, Fräulein Nunnemann neugierig anzusehen, was wir bisher nicht gewagt hatten.

Jetzt, da ich mir ihre Persönlichkeit in die Erinnerung zurückrufe, kommt es mir vor, als müßte Fräulein Natalie Nunnemann etwa acht- oder neununddreißig Jahre alt gewesen sein; damals hatten meine neun Jahre noch nicht Lebensweisheit genug gesammelt, um mir ein auch nur annähernd zutreffendes Urteil zu gestatten. Fräulein Nunnemanns Gesicht erschien meinen Kinderaugen so alt und ihre Kleidung war doch so ausnehmend jugendlich, daß ich diesen Zwiespalt der Natur nicht zu lösen vermochte.

Ihre kleine, aber sehr kräftig entwickelte Figur umschloß ein himmelblaues, sehr faltenreiches Gewand von einem ganz absonderlichen Schnitt, der selbst in unseren jugendlichen Gemütern den Argwohn erweckte, daß die Dame das Kleid mit ihren eigenen schönen Händen zugeschnitten und genäht haben müßte, ohne in die Geheimnisse der Schneiderei völlig eingeweiht zu sein. Dieser Verdacht befestigte sich später erheblich, als wir sahen, daß alle Kleider Fräulein Nunnemanns, die sämtlich in sehr frischen und jugendlichen Farben, besonders immer wieder in Himmelblau, prangten, nach demselben gewiß in seiner Art schönen aber unseren kleinstädtischen Augen etwas ungewöhnlich erscheinendem Schnitt angefertigt waren. Aus Fräulein Nunnemanns ältlichem Gesicht mit dem eigentümlich vorstehenden Unterkiefer leuchtete ein Paar kleiner schwimmender Augen vom echtesten Wasserblau hervor, und das sandblonde Haar war in außerordentlich merkwürdigen und kunstvollen Lockenbüscheln um ihr gelehrtes Haupt frisiert.

Sie nahm die beengenden Armbänder von den sehr rundlichen Handgelenken, öffnete den Knopf ihres Halskragens, um ihrer Kehle mehr Freiheit zu verschaffen, lieh sich von uns ein paar Atlasse, um dieselben zu einem Fußschemel aufeinander zu stapeln, und begann in allergrößter Gemächlichkeit, sich unsere Namen vorsagen zu lassen, wobei jede einzelne einen genauen Bericht über Eltern, Geschwister, Stand und Wohnort des Vaters, Familiengewohnheiten und Verwandtschaften abzulegen hatte, der jedesmal geraume Zeit in Anspruch nahm. Zuerst saßen diejenigen, die sich nicht gerade im Verhör befanden, ganz respektvoll und wohlerzogen still, dann, als wir bemerkten, daß Fräulein Nunnemann uns durchaus keine Beachtung schenkte, wurde uns die Sache langweilig. Wir zogen Märchenbücher aus den Schulmappen, zeichneten Karikaturen auf unsere Schiefertafeln oder unterhielten uns im Flüsterton, bis die Schuluhr auf dem Flur mit lautem Schlage den Schluß der Stunde verkündete. Da hatte Fräulein Nunnemann eben auch ihre notwendigen Erkundigungen beendet, stand auf, knöpfte ihren Halskragen wieder zu, nickte uns gemütlich einen Gruß und verschwand vom Schauplatz.

Uebrigens schien sie einen sonderlichen Gewinn aus den ihr zu teil gewordenen Belehrungen nicht gezogen zu haben, denn noch nach acht Tagen nannte sie uns nicht mit unseren Namen, sondern nur: „Du da mit dem roten Haar,“ – oder „Du da mit den Sommersprossen,“ oder „Du mit der kleinen Nase,“ bis „die mit dem roten Haar“ endlich in ein nicht zu stillendes Schluchzen der Kränkung und des Zornes ausbrach, über welches Fränlein Nunnemann ebenso verblüfft wie betrübt war, da sie zuerst gar nicht begreifen konnte, worüber das Kind eigentlich weinte. Dann erst fing sie an, sich unsere Namen und nicht bloß unsere Unschönheiten zu merken.

Außer diesen Thränen aber sind bei uns herzlich wenige vergossen worden, an denen Fräulein Nunnemann die Schuld getragen hätte. Die Großen in der ersten Klasse ließen sich schon nach wenigen Tagen herab, sich mit uns Kleinen darüber völlig einig zu erklären, daß eine wahrhaft herrliche Zeit für uns

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0528.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)