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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

ihrer Art einzig dastehenden Merkwürdigkeit gedenken. Es ist das auf dem Kirchhofe errichtete Denkmal des 1854 hier verstorbenen Philosophen Schelling, welches König Maximilian II. von Bayern durch den Bildhauer Ziebland für seinen einstigen Lehrer herstellen ließ. Der selige Dekan Federer (ein feinsinniger[WS 1] Pädagog, in seinen letzten Jahren katholischer Pfarrer von Ragaz) schilderte uns, wie er einst einen Herrn vor dem Denkmale knieen und beten sah. Es war der König selbst. – Weiter ist auch der Kurverein lobend zu erwähnen, welcher bequeme Wege nach dem über dem Dorfe schroff sich aufbäumenden Felsenkopfe Guscha, mit wundervoller Aussicht, sowie nach der unweit nördlich von Ragaz sich erhebenden Ruine Freudenberg schuf und die Straße nach dem Bahnhof mit Bäumen bepflanzte.

Gleich hinter dem „Hof Ragaz“ erhebt sich die mit Buchenwald bedeckte Höhe, auf welcher das ehemalige Kloster Pfävers thront und in deren von der Tamina ausgewaschenem Einschnitte das Bad Pfävers eingebettet liegt. Hier, am Fuße der Anhöhe, steht, einem Miniaturschlößchen ähnlich, die untere Station der Drahtseilbahn, welche von Ragaz, die vielgewundene Bergstraße abkürzend, nach der Höhe am Wartenstein führt. Sanft steigend, wie von unsichtbarer Kraft getrieben, gleitet der Bahnwagen, in der Mitte dem herabrollenden begegnend, in 8 Minuten empor und mündet in der oberen Station, wenige Schritte von der Pension Wartenstein, die aus einem in normannischem Stile erbauten schloßartigen Gasthause und einem mit Denksprüchen gezierten Chalet (Schweizerhaus) besteht. Die Terrassen und vorn offenen Parterreräume des Gasthauses bieten die wundervolle, in dem Bilde auf Seite 524 skizzierte Aussicht dar. Vor sich zur Rechten hat man die Trümmer des einst vom Kloster zu seinem Schutze gegen Raubritter errichteten Schlosses Wartenstein und noch weiter rechts die einsame St. Georgskapelle. Dicht unter sich in schwindelnder Tiefe zu Füßen des Vorsprnngs der „Grauen Hörner“ erblickt man wie auf einer Reliefkarte ganz Ragaz mit seinen beiden Kirchen und den Kuranstalten, sowie die zur Bahnstation und zum Rhein führende Straße. Ueber diesen wölbt sich die gedeckte Eisenbahnbrücke nach Maienfeld am Fuße der Luziensteig mit ihren eidgenössischen Festungswerken. Im Hintergrunde aber türmen sich verschiedene Bergmassen. Rechts auf unserem Bilde, gegenüber der St. Georgskapelle, erblicken wir die Scesaplana und daneben den Augstenberg. Gegenüber der Ruine Wartenstein erhebt sich der Falknis, der durch den genannten Paß, die Luziensteig, vom Fläscherberg getrennt wird. Am jenseitigen Ufer des Rheins tauchen in weiterer Ferne die Bergzüge des St. Galler Oberlandes, gekrönt durch die Gipfel Gonzen und Alvier, empor. Der Ausblick ist überwältigend, zauberhaft schön und großartig. Noch umfassender aber gestaltet er sich von der oberhalb des „Chalets“ aufragenden Anhöhe Tabor.

Die Straße weiter aufwärts verfolgend, erblicken wir bald die alten, weitläufigen und schmucklosen Gebäude des aufgehobenen Klosters Pfävers, in welchen seit 1847 die Irrenanstalt des Kantons St. Gallen untergebracht ist. Nach dem Gründer des Klosters, Pirmin (731), führt sie den besonderen Namen St. Pirminsberg. Ein sonderbarer Zufall wollte, daß im Konventsaale des Klosters das Wappen des letzten Abtes gerade den einzigen, dafür noch übrigen Raum ausfüllte. Schon in den letzten Jahren des Bestandes der Abtei hatte darin ein für Klosterverhältnisse sehr aufgeklärter Geist geherrscht und sich den zahlreichen Zöglingen der Klosterschule mitgeteilt; er war auch neben den schon erwähnten Umständen mit ein Grund zur Auflösung des Stiftes. Immerhin dient die Stiftskirche noch dem Gottesdienste der umliegenden Gemeinde des freilich unansehnlichen Dorfes Pfävers. Dieses liegt übrigens in wunderherrlicher Alpenumrahmung, und dem Bergsteiger muß die Wahl wehe thun, welche der Spitzen, die ihn hier umgeben, er unter seinen derbgenagelten Schuh zwingen will. Links winkt der Pizzalun, einer der Vorberge des gewaltigen Calanda, der seinen jenseitigen Fuß bis nahe an Graubündens Hauptstadt Chur setzt. Rechts gegenüber starrt keck der Vasanenkopf in die Höhe, in der Mitte des Hintergrundes erhebt sich harmonisch der pyramidenförmige Monteluna, und über ihm thront hoch der schneebedeckte Pizol (früher Wohl aus Mißverständnis Piz Sol, Sonnenspitze, genannt), der höchste Gipfel der „Grauen Hörner“ (2847 m über dem Meer). Unterhalb dieser Höhen, beinahe in gleicher Erhebung wie Pfävers, blinken die weißen Häuser und das Kirchlein des lieblichen Alpendorfes Valens herüber, das wie zu einem Bergluftkurorte geschaffen scheint. Zwischen Pfävers und Valens gräbt sich in schauriger Tiefe die Tamina ihr Felsenbett und dort, in enger Schlucht, liegt der letzte und scenisch interessanteste Ort, dessen wir hier zu gedenken haben, das Bad Pfävers. Es läßt sich auf Wegen über die beiden Bergdörfer, zwischen denen es versunken scheint, erreichen; aber empfehlen möchten wir diese Umwege nur leidenschaftlichen Bergsteigern, welche zu jenem Ausfluge Zeit genug haben. Für Kurbedürftige eignet sich ausschließlich die romantische Fahrstraße, die im Thale längs der Tamina von Ragaz nach Bad Pfävers führt.

Wir kehren also nach Ragaz zurück, am besten und bequemsten mit den niedersteigenden Wagen der Drahtseilbahn. Unmittelbar bei der unteren Station vernehmen wir das Brausen der Tamina und folgen ihm, indem wir über eine eiserne Brücke die Schluchtstraße betreten.

Tamina! In wundervoller blaugrünlicher Färbung, mit schneeweißen Schaumkämmen, drängt sich die unbändige Alpentochter durch die Felsen, spritzt hoch empor über die ihr Bett anfüllenden, einst von den Felswänden herabgestürzten Steinblöcke und erfüllt die Schlucht mit ihrem machtvollen Donnergesange. Die schmale, kaum das Ausweichen zweier Einspänner gestattende und daher Zweispännern, Radfahrern und Kinderwagen verwehrte, aber trefflich unterhaltene Schluchtstraße steigt, stets treu von der Leitung des Heilwassers begleitet, allmählich an; größtenteils aber scheint sie eben hinzulaufen. Ihre Länge beträgt nur 3,6 km, ist also bequem in drei Viertelstunden zu Fuß zurückzulegen, während die früher erwähnten Bergwege bis zu ihrem Ende mindestens 2 Stunden in Anspruch nahmen. Während des ganzen Tages liegt reichlich die Hälfte des Weges in angenehmem Schatten, früh morgens und spät abends fast die ganze Strecke. Unablässig türmen sich himmelhoch bald senkrechte Felswände, in deren Spalten Grasbüschel oder Tannenbäumchen haften, bald steil ansteigende bewaldete Hänge zu beiden Seiten empor, so daß die Thalsohle der Tamina von dieser und der Straße völlig ausgefüllt ist. Reichliches Wasser strömt von den Felsen herunter – in der Mitte der Strecke flattert sogar schleierähnlich ein „Staubbach“ im kleinen, der „Schrattenfall“, herab. Zwei Stege über den Fluß weisen auf Bergpfade nach Wartenstein und Dorf Pfävers. Mächtige Felsblöcke zur Seite der Straße und ein kurzer Tunnel, durch den diese hinzieht, gestalten ihre Scenerie abwechslungsreich. Beim Schrattenfall befindet sich auch eine Bude für Erfrischungen. Doch, wir können warten, bis wir im Bade angelangt sind!

Erst hart davor, hinter einem Felsvorsprunge, erblickt man plötzlich die nördliche Schmalseite des klosterähnlichen, aus vier Häusern zusammengesetzten Badekomplexes, der 826 m über dem Meere liegt. Diese Häuser sind derart verbunden, daß man im Innern von ihrer Zusammenfügung nichts bemerkt und stets in demselben Hause zu sein glaubt, indessen da ein solches Labyrinth von Gängen und Treppen bildet, daß der Neuling einige Mühe hat, sich zurechtzufinden. In den Gängen herrscht, im scharfen Gegensatze zu der Sommerhitze im Freien, eine sehr kühle Luft, im Souterrain aber, wo die Bäder sind, jene feucht-laue Atmosphäre, die zum Baden einladet. Wie die Ausländer Ragaz, so ziehen die Schweizer meist Bad Pfävers zur Kur vor. Dort herrscht mehr ein elegantes, hier ein gemütliches Leben, bei dem die Einzelnen sich einander mehr anschließen können, weil alle unter einem Dache wohnen. Der vordere Bau enthält den geschmackvollen Speisesaal erster und den einfacheren zweiter Klasse, der mittlere die beiden Konfessionen dienende Kapelle und einen wohlausgestatteten Bazar, und an den dritten stößt, als vierter, die Trinkhalle, in welcher das Quellwasser, das hier immerhin etwas wärmer ist als in Ragaz, in ein aus Stein gehauenes Becken sprudelt. An das beständige Rauschen und Brausen der zwischen dem Gebäude und den Felsen eingeengten Tamina muß sich der leicht hörende Kurgast erst gewöhnen, ehe es ihm den Schlaf nicht stört. Auch die düsteren Eindrücke des Bädergewölbes und der dahin führenden halbdunklen Treppe dürften noch lange in seinen Träumen eine schreckhafte Rolle spielen. Dagegen hat das Badegebäude und haben seine terrassenförmig an der westlichen Höhe hinaufsteigenden Anlagen mit ihrem Blumenschmuck und ihren heimlichen Gebüschen einen behaglich stimmenden freundlichen Charakter.

Doch der Hauptanziehungspunkt im Bade Pfävers ist die Thermenquelle. Ihr Besuch bietet einen großartigen,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: feinsinnniger
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0526.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)