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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

dem Fenster der andern Seite zu und spähte scheinbar angelegentlich in die Nacht hinaus, wo doch, obwohl er sich immerfort bemühte, eine Taustelle an der Scheibe offen zu halten, gewiß nicht das Geringste zu erkennen war. Der Gendarm setzte sich zurecht, beobachtete ihn aus seinem Feldwebelgesicht halb neugierig, halb mit amtlicher Würde. Dazwischen suchte er in seinem Gedächtnis. Seine Miene wurde immer zuversichtlicher.

Eine Weile rührte sich nichts im Coupé, man hörte nur den monotonen Viervierteltakt des Bummelzuges. Endlich sagte der Gendarm: „Verdammt schlechtes Wetter heute, was, Herr Zellin?“

Der Mann im Pelz machte eine Bewegnng – dann wandte er plötzlich sein Gesicht herum, das jetzt ziemlich gefaßt aussah, rückte vom Fenster weg näher und nickte dem Gendarm zu. Ein melancholischer Zug legte sich über seine Augen.

„Sie kennen mich, Möbius, wie ich mich sehr wohl auf Sie besinne, wenngleich wir schon jahrelang einander nicht gesehen haben. Ich weiß auch ganz gut, daß mich noch jemand anderes erkannt hat … und ich kann mir denken, wie es gekommen, daß Sie hier sitzen. Mancher Mensch hat eben kein Glück. Ich bin in Ihrer Hand und weiß, daß Sie mich verhaften wollen; der Steckbrief jagt noch hinter mir her.“

Der Gendarm nickte. „Sie sind auch höllisch unvorsichtig, Herr Zellin. Was thun Sie hier?“

„Manchmal reitet einen der Teufel. Ich komme von Schweden, wo mir’s ganz gut ging, und dachte: auf eine Nacht kannst du dich schon mal nach Hause schmuggeln und deine Frau und deine Kinder sehen. Wenn man so jahrelang fort ist von seiner Familie, kriegt man mal die Sehnsucht wie eine Krankheit; sie verwirrt einem ganz den Kopf. Meine Frau hat heute gerade Geburtstag ... Sie sind doch auch verheiratet?“

„Jawohl, sehr – meine Alte wird warten heute …“

„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen … nein, nein, Sie sollen mich nicht etwa laufen lassen, hol’s der Fuchs, ich hab’ mich drein ergeben … aber verhaften Sie mich wenigstens heute nicht! Kommen Sie mit auf das Gut, wir trinken einen guten Tropfen auf das Wohl meiner Frau zusammen und machen ihr irgend etwas weis, was sie beruhigt. Wir kneipen die Nacht durch, ich gehe Ihnen nicht aus den Augen, früh um sechs fahren wir ab. Wenn Sie wollen, auch früher, mit Gespann.“

„Hm!“ sagte der Gendarm, mit einem Blick, der in die innersten Gedanken des Herrn Zellin dringen sollte.

„Meine arme Frau hat dann wenigstens einen glücklichen Geburtstagsabend; sie hat Gram genug ausgestanden – verderben Sie ihr bloß heute den Tag nicht. Sie wird nachher noch Jammer genug haben. Wollen Sie? Wir müssen ja doch heute auf dem Gut nächtigen – bei dem Wetter, was soll sonst werden?“

Er hielt dem Gendarm die Hand hin. „Na gut,“ sagte der und schlug ein. „Aber ich passe höllisch auf!“

Ueber das Gesicht des Herrn Zellin flog etwas wie ein Lampenflackern; er blinzelte, nur eine Sekunde.

„Nun sagen Sie bloß, Herr Zellin, wie haben Sie den Menschen totschlagen können! So ’n Mann wie Sie!“

„Gewollt hab’ ich’s ja nicht; ich habe ihn bloß so unglücklich getroffen, nur mit der Faust. Und ich habe wahrhaftig hinterher genug ausgestanden in meinem Gewissen. Die Sache ging so zu: er war ja ein reicher Junge, der einzige Sohn, und sein Vater galt für ’nen halben Thalermillionär. Wir wußten wohl, daß er auf Janekow, das ihm der Alte gekauft, schlecht wirtschaftete, oft verreiste und Geld mit Spiel und anderm Unfug verthat; aber als er kam und mir zwanzigtausend Mark abborgte, hatte ich doch noch keine Ahnung, daß er bankrott war. Er gab mir für das Geld Wechsel, die ich fällig machen konnte, wie ich wollte. Auf einmal höre ich, er ist fertig, der Alte hat das Gut für die Taxe übernommen und will für den Sohn auf die Hälfte accordieren. Ich klage rasch die Wechsel ein, schreibe dem Herrn Sohn meine Meinung – da kommt er, spielt den Gekränkten und schlägt mir vor, ich solle nur in den Accord willigen, für den Ausfall wolle er mir neue Wechsel geben. Ich gebe mich denn, nehme die Wechsel und accordiere. Bald darauf starb der Alte, der Junge erbte. Jetzt will ich die Wechsel bezahlt haben – er lacht mich aus. Wollen sehen, mein Junge, sage ich, zuerst klage ich sie mal ein. Was sagt der Kerl? Ich hätte ja accordiert und mich gegen seinen Vater befriedigt erklärt; wenn ich klagte, würde er mich beim Staatsanwalt denunzieren, daß ich seinen Vater betrogen hätte.“

„So ’n Kerl!“ rief der Gendarm.

„Natürlich klagte ich. Da verreiste er, war nirgends zu finden, ließ aber durch seinen Anwalt erklären, er wolle beschwören, daß die Zehntausend mit dem Accord beglichen wären. Zwei Jahre zog er den Prozeß hin; als er dem Eid am Ende nicht mehr entgehen konnte, blieb er im Termin aus und ich gewann. Da denunzierte er mich richtig und ich kam auf die Anklagebank, weil ich die Sache anfangs zu leicht genommen hatte. Am Ende wurde ich ja freigesprochen, aber denken Sie sich die Scherereien und meine Wut!“

Zellin machte eine Pause, dann fuhr er fort:

„Da war ich mal abends in der Stadt, im Kasino, ging spät in der Nacht ins ,Braune Roß’ zu meinem Fuhrwerk. In der Langen Gasse begegnete mir der Mensch unter einer Laterne, blieb stehen und lachte, daß die ganze Straße schallte. Ich konnte mich nicht halten, hatte wohl auch’n bißchen viel Rotspohn getrunken – kurz, ich schlug ihn mit der Faust gegen den Kopf; wohin ich traf, war mir egal. Er fiel um wie ein Sack. Ich wurde nüchtern, untersuche ihu, kriege eine Todesangst … die Sache war faul. Kein Mensch in der Nähe. Ich lasse anspannen, jage nach Hause. Ich ein Mörder! Denken Sie sich bloß das Gefühl, und die Scene mit meiner Frau! Aber es half doch nichts, ich ordnete das Nötigste, dampfte mit dem Frühzug nach Rostock, von da mit einem Norweger Dampfer weiter … aber da sind wir …“

Der Zug bremste, eine Glocke schallte.

„Seitdem haben Sie Ihre Frau nicht gesehen?“ Der Gendarm erhob sich.

„Doch, einmal, in Stettin. Aber sie stand solche Angst aus, daß ich sagte: Nicht wieder.“

„Aber geschrieben haben Sie sich doch mit ihr?“

„Ja, ab und zu, durch eine Cousine von ihr.“

„Haben Sie kein Gepäck?“

Sie standen jetzt draußen auf dem Bahnsteige.

„Ich habe alles in Stralsund gelassen.“

Es gab hier nur eine Haltestelle: ein kleines Häuschen, die unumgänglichste Beleuchtung. Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, aber der Wind pfiff grausam kalt weiter. Niemand war außer ihnen auf dem Bahnsteige als der Wärter der Haltestelle, und der hielt seine Aufmerksamkeit dem Zuge zugewendet.

„Kommen Sie rasch,“ sagte Zellin, nahm den Arm des Gendarmen und führte ihn um das Gebäude herum. „Ich kenne den Weg.“

Sie schritten im Schnee einen absteigenden Weg hinunter; das Schneelicht reichte kaum hin, ihn zu bezeichnen. Der Himmel war pechfinster. Die beiden schwiegen, während sie nun über Feld gingen, durch das eisige Sausen. Nur einmal fragte der Gendarm: „Zu Hause bei Ihnen wissen sie wohl, daß Sie kommen?“ – „Nein,“ sagte der Gutsbesitzer. Beide mußten schreien, um einander zu verstehen. – Endlich kamen kahle Bäume rechts und links; ein Hund schlug an, ein halb Dutzend andrer nahm das Gebell auf. Ein Häuschen – ein paar andere, mit dunklen Fenstern; Scheunen, ein Hof: da ist das langgestreckte, zweistöckige, weiße Gutshaus. Eine große Dogge rannte aus einem Winkel, Zellin rief: „Diana!“ und der Hund stutzte, heulte und sprang an seinem Herrn wie toll in die Höhe, daß der Mühe hatte, ihn zu beruhigen. Er drängte vorwärts, den hellen Parterrefenstern zu.

Der Gendarm, an dem jetzt der Hund herumschnüffelte, blieb hart hinter ihm, er hatte durchaus nicht die Absicht, den Herrn Zellin entwischen zu lassen, wie sehr ihm der Mann auch nach seiner Erzählung persönlich leid that. Erst kurz vor dem Hause hielt er sich etwas zurück.

Zellin spähte in die Stube, klopfte an die Scheibe. „Mieke!“ rief er mit rauher, halb erstickter Stimme. „Mieke!“ Und gleich darauf wurde der Flügel aufgerissen.

„Adolf – Adolf – allmächtiger Gott …“

„Ich komme, Dir zum Geburtstag zu gratulieren . . .“ weiter brachte er nichts heraus, die Gatten hingen aneinander wie verwachsen, man hörte das aufgeregte Schluchzen der Frau. Plötzlich hielt Zellin ihren Kopf mit beiden Händen fest und sagte laut: „Ich bringe den Gendarm Möbius mit, aber fürchte nichts für mich, auch wenn ich morgen noch einmal mit ihm abfahre – ich werde frei sein.“ Und dann bog er sich einen Augenblick hart an ihr Ohr und flüsterte hastig hinein: „Frag’ nicht weiter darüber, mit keinem Wort – hörst Du?“

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