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verwandelt haben, z. B. die Popanze, die an den Küsten der Bretagne umgehen, durchweg für Rote Männer gelten.

Ursprünglich hatte jedes Haus seinen Kobold; und zwar gehörte der Kobold zunächst nicht der Familie, sondern dem Hause als solchem an. Die Hausgeister sind nämlich die alten Hausbesitzer und die Gründer des Herdes, die unter demselben ruhen. Man muß sich vorstellen, daß in grauer Vorzeit, als es noch keine Kirchen und Kirchhöfe gab, der verstorbene Hausvater im Hause gelassen und an dem Sitze seiner Herrschaft, der Feuerstätte, begraben wurde; daher schreibt sich die Heiligkeit des Herdes. Die eigentlichen Hausgeister, und zwar von den römischen Laren und Penaten an, sind alles Alterchen, alles Seelen von guten alten Leuten, die sich von ihren vier Pfählen nicht trennen, sondern nach wie vor ihren Platz am Feuer haben wollen, sich auch nach wie vor im Hause nützlich machen. Sie spalten Holz und legen an, klopfen an Thüren und Fenster, sehen überall zum Rechten und erhalten das Haus in gutem Stande. Wenn die Mauer einen Riß bekommt, so zeigt der Kobold es den Bewohnern an; wenn sie einzustürzen droht, erscheint er. Die Matrosen haben etwas Aehnliches an ihrem Klabautermann. In Häusern, welche recht alt sind, wohnt nicht das Väterchen, sondern das Mütterchen, die gebückte Urahne des Geschlechts; galt doch in der Urzeit die Frau als Oberhaupt der Familie.

Wer kennt nicht die Sage von der schönen Melusine, die in der französischen Stadt Lusignan auf den Zinnen des Schlosses erschien, wenn den Grafen ein Unglück drohte? Sie ist die Stammmutter dieser Herren, die in Zeiten der Kreuzzüge Könige von Jerusalem und Cypern waren. Sie soll eine Fee gewesen sein und den Grafen Raimund geheiratet haben. Als sie ihren Gemahl verlassen mußte, prophezeite sie: „Wenn man mich einst in der Luft über Lusinia schweben sieht, dann sollt ihr wissen, daß das Schloß im selbigen Jahre einen andern Herrn bekommen wird; ich werde aber den Freitag zuvor erscheinen.“ Und so geschah es. Das großartige Schloß, eins der altertümlichsten von Frankreich, wurde während der Hugenottenkriege belagert und zerstört und damit auch der Thätigkeit des Gespenstes ein Ende gemacht. In deutschen und österreichischen Schlössern werden die Ahnfrauen, die ihr Geschlecht abfordern, heute noch „gesehen“; man nennt sie hier gewöhnlich, weil sie aus dem Grabe kommen und das Totenhemd anhaben, im Gegensatze zu den Roten Männchen: die Weißen Frauen.

Weiß ist die Farbe der Geister und Gespenster, die die Volksphantasie aus dem Jenseits wiederkommen läßt. Wenn die Kinder Gespenster spielen, so wickeln sie sich in ein Bettlaken. Der Türmer sieht in der Geisterstunde hinunter auf den Kirchhof:

„Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann:
In weißen und schleppenden Hemden.“

Natürlich trägt die Weiße Frau als eine Figur des Mittelalters auch das Kostüm der altdeutschen Hausfrauen, das heißt außer dem weißen Kleide ein weißes Tuch um Kinn und Wangen, einen weißen Schleier und an der Seite einen Schlüsselbund. Man will wissen, daß sie vor dem Tode eines Prinzen gestiefelt und gespornt, vor dem Tode einer Prinzessin in schwarzen Handschuhen komme. Der Stiefel ist wohl der gefeite Schuh des Märchens, den jeder Kobold besitzt.

In Böhmen, in der Nähe des Marktes Borotin, ist der Schauplatz von Grillparzers „Ahnfrau“; in der Bezirkshauptmannschaft Kaplitz, auf einem hohen Felsen an der Moldau liegt das alte Schloß Rosenberg. Hier saß ein mächtiges Geschlecht, das in die Geschichte des Landes tief eingegriffen hat, das Geschlecht der Herren von Rosenberg. Den Namen Rosenberg führen heutzutage noch die Fürsten Orsini, die in Kärnten ansässig sind, neben dem ihrigen; die alten Grafen aber nannten sich Herren von Neuhaus und Rosenberg, nach dem uralten Schlosse Neuhaus, das gegenwärtig den Grafen von Czernin gehört; es liegt an der Bahn Wessely-Iglau und wird von den Czechen Heinrichsburg genannt. Dieses Schloß ist noch älter als Rosenberg, es stammt aus den ersten drei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts und gilt für eine Schöpfung der Gräfin Bertha von Rosenberg, die hier dieselbe Rolle spielt wie die schöne Melusine in Lusignan. Noch heute, wo das Geschlecht der Rosenbergs längst erloschen ist, segnen die Armen der Stadt Neuhaus das Andenken dieser goldnen Baba (Großmutter). Zum Bau des Schlosses hatte es neunundzwanzig Jahre bedurft; als es fertig war, gab die Gräfin den Arbeitern einen Richtschmaus. Sie setzte ihnen Karpfen mit polnischer Sauce vor. Dieses Traktament erhielt sich jahrhundertelang in der Form, daß alle Ostern am Gründonnerstag vierundzwanzig alte Leute mit Karpfen bewirtet wurden. Das geschah regelmäßig bis zum Dreißigjährigen Kriege; in einem dieser stürmischen Jahre lagen die Schweden im Schlosse, und die Speisung fiel aus. Aber der Geist der alten Gräfin ließ sich das nicht gefallen: er schreckte und ängstigte die Besatzung, bis endlich auf den Rat des Kastellans wieder Karpfen gekocht und polnische Sauce dazu bereitet wurde.

Schon zu Ende des 16. Jahrhunderts gedenken gleichzeitige Schriftsteller der Weißen Frau von Neuhaus; die gelehrtesten Männer sprechen von ihrer Erscheinung als von einer allgemein bekannten Thatsache. Sie bewährte sich als echter Hausgeist, indem sie für den Bestand des Gebäudes selber sorgte und sich zum Beispiel einmal am hellen Mittag warnend auf einem Turme desselben zeigte, als eine Treppe morsch geworden war; sie vergaß aber auch ihre Leute, die Hausbewohner nicht. Als Joachim von Rosenberg, einer ihrer spätesten Enkel, im Sterben lag, holte sie ihm einen Geistlichen, damit er beichten könne. Und als sie ihr Geschlecht überlebt hatte und die rote Rose auf dem silbernen Berge entblättert war, wandte sie sich einem anverwandten Geschlecht zu.

Seit dem Jahre 1561 begann die Frau von Neuhaus das Berliner Schloß als das ihrige zu betrachten und nicht nur die Hohenzollern, sondern auch alle mit ihnen verschwägerten Familien, namentlich die Nebenlinien Ansbach und Bayreuth, unter ihren Schutz zu nehmen. Die Beziehungen der Rosenbergs zu der Mark Brandenburg sind alt: Markgraf Otto III., der Fromme, der im Jahre 1230 am Ufer des Frischen Haffs, zwischen Balga und Königsberg, eine neue Brandenburg erbaute, war der Schwager einer Frau von Rosenberg und der Vormund ihres Sohnes. Im Jahre 1285 erfolgte eine weitere Annäherung der beiden Häuser, indem eine Hohenzollern, die Prinzessin Sophie, Tochter des Kurfürsten Joachim II., einen Herrn Wilhelm von Rosenberg heiratete. Seitdem begann die Uebersiedelung und Verpflanzung der Bertha von Rosenberg in die Kurfürstenburg und die kurfürstlichen Anlagen längs der Spree. Sie war hier zunächst ebenso geschäftig und hilfreich wie in ihrem alten Heim. Sie wusch ihre weiße Wäsche am Schloßbrunnen und hing sie im Mondschein auf oder bleichte sie am Ufer; sie wiegte die geliebten Kinder, wenn ihre Ammen schliefen, und sprang gefällig ein, wo es an etwas fehlte. Sie war ein rechtes Faktotum. Die Kurfürstin Luise Henriette sitzt vor dem Spiegel und fragt so vor sich hin, was es an der Zeit sei. Ihre Kammerfrau ist zufällig nicht anwesend, aber statt ihrer guckt die Weiße Frau hinter dem Spiegel hervor und antwortet: Zehn Uhr, Euer Liebden! – Die Gräfin von Montfort-Bregenz macht bei einer preußischen Prinzessin einen Krankenbesuch; als sie weggeht, ist niemand da, ihr zu leuchten. Aber die Weiße Frau kommt mit einer brennenden Wachskerze und begleitet die Gräfin hinunter. Ihr eigentliches Amt ist es jedoch, in den Schlössern der Hohenzollern zu erscheinen, wenn etwas Wichtiges bevorsteht, namentlich Todesfälle anzuzeigen, die im preußischen Königshaus eintreten.

Als der erste König von Preußen, schon lange kränklich, eines Abends allein in seinem Zimmer saß, überraschte ihn seine Gemahlin Sophie Luise in weißem Nachtgewande, an den Armen blutend. Sie war die Tochter des Herzogs Friedrich von Mecklenburg und etwas überspannt; sie litt an religiösem Wahnsinn und quälte ihren Gemahl mit ihren Bekehrungsversuchen. Für gewöhnlich wurde sie überwacht, war aber an diesem Abend ihrem Gewahrsam entkommen und hatte sich beim Aufstoßen der Glasthüre verletzt. Der König erschrak heftig; er glaubte, die Weiße Frau zu sehen. Wirklich erkrankte er schwer und starb acht Tage darauf (25. Februar 1713), während ihn seine Frau um zweiundzwanzig Jahre überlebte.

Man hat die Erscheinung der Weißen Frau noch in einer andern Weise zu erklären versucht. Die Abergläubischen halten vielfach alle Gespenster, die da umgehen, für die Seelen Schuldbeladener, die verdammt sind, so lange zu wandern, bis die Verbrechen ihrer Zeitlichkeit getilgt sind. Das Abrufen ist nach dieser Anschauung nicht etwa ein Vergnügen, es hat etwas Qualvolles: rastlos muß die Weiße Frau heraufkommen, bis das von ihr abstammende Haus ausgestorben ist. Aus diesem Grunde hat man sich frühe unter den Ahnfrauen des Hauses nach einer geeigneten Sünderin umgesehen, ihr das Ruferamt übertragen, sie für die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0490.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2022)