Seite:Die Gartenlaube (1896) 0450.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Eigenschaften vor; suchte jeden tollen Streich zu entschuldigen, den er auf dem Gewissen hatte; machte alle äußerlichen Dinge, die den Leichtsinn in ihm genährt und großgezogen hatten, für seine „Lüftigkeit“ verantwortlich und redete sich ein, daß er doch eigentlich bis heute nicht die geringste Ursach’ und Verpflichtung gehabt hätte, ein ordentlicher Mensch zu sein! Aber bei all dieser schweißtreibenden Gedankenmühe kam er doch immer wieder zu dem gleichen Schluß:

„Schorschl! Du bist ein Lump!“

Ein Lump? Ja!

„Aber gar so arg, wie sie’s g’meint hat, kann’s ja doch net sein!“

Eine Weile noch brütete er vor sich hin; dann sprang er auf und bürstete mit dem Aermel sein Hütlein.

„Es laßt mir kein’ Ruh’ nimmer! Ich muß das Madl heut’ noch fragen!“

Drunten im Thal schlug die Kirchenuhr die neunte Stunde, während Schorschl über die Wiesen rannte und mit hohen Sätzen alle Risse und Klüfte übersprang, als hätte seine Frage die höchste Eile und könnte die Antwort nicht mehr erwarten. Doch als er die Böschung über dem Haus des Simmerauers erreichte, hielt er ratlos inne und zog sich scheu zurück, um nicht gesehen zu werden.

Denn im Hofraum, über dem sich das Mondlicht mit dem zuckenden Schein zweier Kienfackeln mischte, standen Michel, Mathes und Vroni noch bei der Arbeit. Doch eben jetzt – die Fackeln waren schon zu kurzen Stümpfen niedergebrannt – ließ der Simmerauer die Säge ruhen.

„Kommts, Kinder,“ sagte er, „endlich müssen wir ja doch Feierabend machen! Die Nacht hat der liebe Gott für ’n Schlaf erschaffen. Und den brauchen wir!“

Ohne viel zu reden, trugen sie ihre Werkzeuge zur Hausbank und gingen zum Brunnen, um den Schlamm von ihren Füßen zu waschen. Michel faßte den Schwengel, und schon nach wenigen Zügen plätscherte ein dicker Wasserstrahl in den Trog.

„Schau nur, Mathes,“ sagte der Alte, „so viel Wasser, kaum daß ich’s Ziehen anfang’! Es muß doch ’s Wasser schon wieder g’stiegen sein? Meinst net?“

„Ja, Vater! Und ’s Brunnenwasser kommt von unt’ auf.“

„Ja! Von unt’ auf wenn’s käm’, das wär halt ein Glück!“

Der Simmerauer pumpte, bis der Trog überlief – als könnte er sich an dem vielen Wasser gar nicht satt sehen.

Eins nach dem anderen stellte die Füße auf den Trogrand und schöpfte Wasser mit der Hand. Mathes löschte die niedergebrannten Fackeln aus; vor der Hausthür blieb er stehen und blickte über das mondbeglänzte Gehänge hinunter ins Thal; dort unten hatte sich der Nebel geteilt und war in die Seitenthäler auseinandergeflossen, so daß man die höher liegenden Häuser des Dorfes matt unterscheiden konnte.

„Die da drunt’ haben’s gut,“ sagte Mathes zu seiner Schwester, als sie vom Brunnen kam, „überall schlafen s’ schon und alle Häuser sind finster.“ Nach einer stummen Weile fügte er mit versunkener Stimme bei: „Bloß im Purtschellerhof brennt noch ein Lichtl.“ Er blickte zu Vroni auf und fragte zögernd: „Meinst, ihr Kindl is krank?“

„Gott soll’s verhüten!“ Die Schwester legte ihm den Arm um die Schulter und schob ihn zur Thüre. „Aber denk an uns, Mathes … denk net an andre!“

„Ja, hast recht!“ Er strich mit der Hand über die Stirne und trat in den Flur. „Aber Dir, Vronerl, könnt’ ich heut’ auch was sagen!“

„Was denn?“

„Seit der Schorschl da g’wesen is, studierst mir z’viel!“

Sie schüttelte den Kopf und sagte ruhig: „Da hast Dich verschaut, Mathes! An so ein’ denken, wie der Schorschl … Gott bewahr’ mich! Da laß ich mir’s Elend von unserer armen Zenz zur Warnung sein!“ Sie bekreuzte sich, als sie den Namen der verstorbenen Schwester nannte. „Weißt, so g’meint hab’ ich bloß: es wär’ doch eigentlich schad’ um den Schorschl!“

„Ja, um den is schad’! So ein lebfrischer Mensch, recht wie zur Arbeit g’wachsen!“

Ein dumpfes Rollen, wie der schwache Wiederhall eines fernen Donners, klang von der Höhe des Berges herunter.

Da sprangen sie alle beide vor die Thür hinaus und lauschten. Auch der Simmerauer, der noch beim Brunnen stand, richtete sich auf und spähte in die Höhe.

Kein Laut mehr, alles war still dort oben.

„Es wird halt wieder wo ein Brocken niederbrochen sein!“ sagte Michel; er kam zur Thüre, und hier standen sie noch eine Weile und horchten; dann schob der Alte seine Kinder ins Haus. „Geh’n wir halt ’nein unter’s Dach! Der liebe Hergott soll uns b’hüten und soll uns das bißl müden Schlaf vergunnen!“

Die Stube, welche sie betraten, war so niedrig, daß sie mit den Köpfen fast an die Decke stießen. Mutter Katherl, welche schon die geblümte Nachtjacke trug und das Schlaftuch um den Kopf gewickelt hatte, stand am Tisch und zog mit einer Haarnadel den verkohlten Docht aus dem Schnäbelchen der Oellampe, deren Flämmlein ein mattes Zwielicht über das bescheidene Gerät der Stube warf.

Gegessen hatten sie bereits, vor ein paar Stunden schon, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Nur beten mußten sie noch. Michel und Mathes zur Rechten vom Herrgottswinkel, Mutter Katherl und Vroni zur Linken – genau so, wie Männer und Frauen in der Kirche ihre getrennten Plätze haben – so knieten sie zu beiden Seiten des Tisches nieder. Mit lauten Stimmen sprachen sie den Mariensegen und die Litanei zu allen Heiligen, bei welcher Mutter Katherl vorbetete. Nach dem letzen Vaterunser, als die anderen schon das Kreuz machen wollten, sagte Michel: „Bleibts noch ein bißl, Kinder! In b’sonderer Zeit muß der Christ was B’sonders haben für sein’ guten Herrn!“ … Und er fuhr fort zu beten: „Du lieber, gnädiger Vater droben, der sein’ einzigen Sohn für uns hat bluten lassen, schau, ich thu Dich bitten, denk’ ein bißl an uns arme Leut’ und nimm halt unser Häusl in Dein’ festen Schutz! Bist ja so ein guter Mann! ’s unsinnige Vieh und alle Pflanzerln haltst in Deiner sicheren Hut … schau, da kannst doch auch Dein’ alten Michel net ganz verlassen! Und weil ich schon den festen Glauben hab’, daß ein guter Christenmensch bei Dir droben kein’ Fehlspruch macht, so sag’ ich Dir halt im voraus gleich Vergeltsgott für alles, ja! Im Namen Gott des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!“

„Amen!“ sagten die anderen.

Der alte Simmerauer erhob sich und streckte die steifen Knie und den gekrümmten Rücken. „So, Kinder, jetzt kann man sich schlafen legen in aller Ruh’ … er hat mich schon verstanden, mein’ ich!“

Mathes ging zum Ofen, breitete eine Kotze über die Holzbank und ballte einen Wettermantel für sich zum Kissen zusammen. Wie er war, legte er sich nieder.

Inzwischen entzündete Vroni an dem Flämmlein der Oellampe einen Kienspan. „Gut’ Nacht, Vater und Mutter!“ sagte sie und verließ die Stube.

Als die Mutter sich mit dem Lämpchen zur Kammerthür wandte und hinter sich den Schritt ihres Mannes nicht hörte, blickte sie über die Schulter. „Michel? Warum kommst denn net?“

„Grad’ is mir g’wesen, als hätt’ einer durchs Fenster ’rein g’schaut zu uns in d’ Stuben!“

„Aber geh! Wer sollt’ denn draußen sein?“

„Ja, hast recht! Muß mich doch wohl der Mondschein ’täuscht haben!“

Sie traten in die Kammer.

Doch nicht der Mondschein hatte den Simmerauer getäuscht – seine Augen hatten recht gesehen. Draußen stand der Daxen-Schorschl mit pochendem Herzen an die Mauer gedrückt. Als er sah, daß die Stube finster wurde, glitt er lautlos zum nächsten Fenster, das sich matt erhellte. Vorsichtig spähte er durch die Scheiben. Aber das war nicht das Stübchen, das er suchte – es war die Kammer der beiden Alten: ein kleiner, ärmlicher Raum, in welchem zwei Betten nebeneinander standen; da mußten der Simmerauer und sein Weib ein unbequemes Liegen haben, denn zwischen ihren Plätzen war aus blauen Kissen ein Nest für die beiden Enkelkinder gerichtet, welche eng aneinander geschmiegt in ruhigem Schlummer lagen, mit roten Wangen und zerzausten Haaren.

Mutter Katherl streifte die Pantoffel von den Füßen und blies die Lampe aus. „Gut’ Nacht halt, lieber Michel!“ hörte Schorschl sie sagen und der Simmerauer antwortete im Dunkel: „Gut’ Nacht, mein Katherl, mein gut’s! Jetzt schlaf’ halt ein und thu Dich net sorgen!“ Ein gepreßter Seufzer, ein mattes Aechzen der Bettstellen – dann war’s still in der Kammer.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0450.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)